SWR2 Wort zum Tag

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11FEB2021
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Friedrich Dürrenmatt, der Schweizer Schriftsteller. 1921 ist er geboren, vor 100 Jahren also. Ein hellsichtiger „Prophet“ der Moderne, finde ich. Seine Geschichte „Der Tunnel“ ist mir aus meiner Schulzeit unvergesslich geblieben. Vor allem wegen ihres Schlusses.

Da fährt ein junger Mann mit der Bahn eine Strecke, die ihm völlig vertraut ist. Bei dieser Zugfahrt aber ist alles anders. Seine Mitreisenden scheinen nichts zu bemerken. Er aber ist alarmiert: weil der Tunnel, durch den sie gerade fahren, kein Ende nehmen will. Und der Zug dabei immer schneller wird.

Schließlich kämpft sich der junge Mann zusammen mit dem ratlosen Zugführer zur Lokomotive vor. Aber auf dem Führerstand ist niemand. Die Notbremsen funktionieren auch nicht. Und so stürzt der Zug in rasender Fahrt einem Abgrund entgegen.

"Was sollen wir tun?", ruft der Zugführer am Ende verzweifelt. "Nichts", antwortet ihm der junge Mann. "Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu."

Ich fand diesen Schluss schon als Schüler aufregend. Was bedeutet das: „Gott ließ uns fallen?“ Und dann erst der Nachsatz: „Und so fallen wir denn auf ihn zu“?

Dürrenmatt war Pfarrersohn. Zu seinem Elternhaus hatte er ein gespaltenes Verhältnis. Er empfand es als fromm. Aber auch erdrückend eng. Den Beruf seines Vater fand er faszinierend. Aber seine Predigten langweilten ihn. So war Rebellion sein Thema in jungen Jahren. Und blieb es bis ins Alter.

Über seinen Entschluss, Schriftsteller zu werden, sagte er rückblickend: „Es galt, gegen die Welt an sich zu protestieren, Gott an sich zu attackieren.“ Dürrenmatts zweite Frau, Charlotte Kerr, nannte ihn einen »gotteskämpferischen Atheisten«.

Vielleicht, denke ich, erklärt sich von daher der doppelbödige Schluss der Geschichte. Einerseits das Gefühl: „Gott hat uns fallen lassen.“ Es geht mit dieser Welt dem Abgrund entgegen. Auch darum, weil sich die Zugreisenden von allem Möglichen ablenken lassen, statt zu erkennen, dass sie sich in einem Tunnel befinden.

Dann aber: dieses starke „und so stürzen wir denn auf ihn zu.“ Da ist die verwegene Hoffnung auf einen Gott, der jenseits menschlicher Selbsttäuschung und menschlichen Größenwahns seine Schöpfung nicht ins Bodenlose stürzen lässt.

Und der mich heute hoffen lässt, dass die Welt nicht ins Leere fällt. Sondern Ende und Ziel unseres Lebens bei ihm in guten Händen ist.

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