SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

04FEB2021
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Neulich, früh gegen acht Uhr in der S-Bahn. Ich sitze mit ungefähr zehn anderen Fahrgästen im Großraumbereich. Mir gegenüber ein junger Mann mit Baseballkappe und Kopfhörern, neben mir eine junge Frau so um die 35. Die Zugbegleiterin nähert sich. Sie ist nicht groß, wirkt aber resolut. Entspannt krame ich mein Ticket raus. Auch die Frau neben mir kramt in ihrer Tasche, mit wachsender Unruhe. Als die Zugbegleiterin vor ihr steht, stammelt sie etwas von vergessenem Portemonnaie, das wohl inklusive Monatsticket und aller Personaldokumente zuhause liegt. Es ist ihr sichtlich unangenehm.

Ich erwarte das übliche Prozedere. Doch es kommt anders.

Einen Moment lang überlegt die Zugbegleiterin, bevor sie fragt: „Was soll ich jetzt mit Ihnen machen?“ Immer noch kramt die Dame nervös in ihrer Tasche. Mit gespieltem Ernst fragt die Zugbegleiterin: „Soll ich jetzt meine Folterwerkzeuge auspacken?“ – „Oh“, sage ich, „haben Sie etwa einen Elektroschocker dabei?“ Sie: „Da hab ich ganz andere Sachen.“

Nun wendet sie sich an die Runde der Fahrgäste: „Finden Sie, dass diese Dame vertrauenswürdig aussieht?“ – „Auf jeden Fall“, sage ich deutlich vernehmbar, denn längst ist mein Retter-Instinkt erwacht. Die anderen Mitreisenden nicken zustimmend und sind spätestens jetzt Teil der Szene. Nur der junge Mann mit den Kopfhörern hat noch nichts mitbekommen. Die Zugbegleiterin tritt an ihn heran und signalisiert ihm, dass sie auch gern von ihm etwas hören würde. Er nimmt die Kopfhörer ab und ruft ein engagiertes „Alles klar“ in die Runde. Doch klar ist hier noch gar nichts. Die Frage, was jetzt mit der Schwarzfahrerin werden soll, steht unbeantwortet im Raum. Ich unternehme einen weiteren Vermittlungsversuch und schlage vor: „Vielleicht kann die Dame ja ein Lied singen oder ein Gedicht aufsagen.“ „Gute Idee«, reagiert die Zugbegleiterin und schaut die betroffene Dame neben mir fragend an. „Wäre das ein Deal?“ Gespannte Stille. Alle im Bereich wollen jetzt wissen, wie die Sache ausgeht. Selbst der Typ mit den Kopfhörern ist ganz bei der Sache. „Na ja, also hier singen? - Das wäre nicht so mein Ding“, stammelt die Dame. „Gedicht? Wie wäre es damit?“ Keine Antwort. „Können Sie beten?“ Die Frau ist genauso verblüfft wie ich und wahrscheinlich auch die anderen Fahrgäste. „Ja, doch“, sagt sie zaghaft. „Beten kann ich vielleicht.“ Ich bin gespannt, ob die Zugbegleiterin nun vorschlägt, das Vaterunser zu beten. Tut sie aber nicht. Stattdessen sagt sie mit einer kreisenden Armbewegung, die alle Umsitzenden einbezieht. „Toll! Dann schließen Sie uns bitte heute alle in Ihr Abendgebet ein!“ Und geht weiter zum nächsten Wagen.

Pfarrer Joachim Sohn, Furtwangen, alt-katholische Kirche.

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