SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

01FEB2021
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Rafael ist mein Sitznachbar im ICE: Er stammt aus Venezuela. Während der Fahrt kommen wir ins Gespräch. Wir unterhalten uns auf Englisch. Wir erzählen einander, wohin wir unterwegs sind. Und immer wieder geht unser Blick aus dem Fenster hinaus auf die Landschaft, die an uns vorüberfliegt. Was wir so machen im Leben, erzählen wir uns, und wir stellen fest, dass wir gleich alt sind. Es ist ein lockeres Gespräch.

Ungezwungen. Eine kleine Zugbekanntschaft, wie man sie manchmal macht, wenn man auf Reisen geht. Wenn wir aussteigen, geht jeder von uns wieder seine eigenen Wege.

Der Zug verlässt gerade den Hauptbahnhof von Frankfurt am Main, als unsere Unterhaltung abrupt abbricht: Rafael springt so plötzlich von seinem Sitz auf, dass ich zusammenzucke und auch andere Fahrgäste auf ihn aufmerksam werden. Rafael strahlt über das ganze Gesicht, wirkt ganz außer sich, deutet mit dem Finger nach draußen und ruft: „Snow! Look at this! Snow!“ „Schnee, guck dir das an! Schnee!“ Mein Blick folgt seinem Finger. Er hat recht. Weiße Flocken fallen vom wintergrauen Himmel. Wenige nur. Eher Flöckchen als Flocken. Sie bleiben nicht mal liegen. Und doch, es stimmt: Es schneit. Ich muss lächeln. „Das erste Mal in diesem Jahr“, sage ich. Rafael nickt langsam. Er kann den Blick kaum vom Fenster abwenden. Es sieht so aus, als würden Tränen in seinen Augen glitzern. „Das erste Mal in diesem Leben“, sagt er.

Dieser Satz trifft mich. Ich wohne in Furtwangen im Hochschwarzwald. Für mich ist es ganz normal, dass es im Winter schneit. Aber hier macht ein Mensch eine ganz neue Erfahrung. Eine, die er in seinem ganzen Leben nicht mehr vergessen wird.

Ich erinnere mich auch an so eine eigene erste Erfahrung, die ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen werde. Lange habe ich mich nicht getraut, ein Streichholz anzuzünden. Geklappt hat es erst, als mein Vater mir zeigen wollte, dass eine Kerze ausgeht, wenn man ein Glas darüber stülpt. Seine Bedingung ist gewesen, dass ich die Kerze selbst anzünde. Die Neugier hat meinen Mut beflügelt. Und ich bin sehr stolz gewesen, dass ich es geschafft habe. Diese Erfahrung ist mir heilig. Und noch heute denke ich daran, wann immer ich ein Streichholz anzünde.

Bei uns schneit es zur Zeit viel. Und ich denke oft an Rafael. Ich erinnere mich lebhaft an seinen staunenden Blick. Und höre immer wieder seinen Satz: „Das erste Mal in meinem Leben.“

Pfarrer Joachim Sohn, Furtwangen, alt-katholische Kirche

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