SWR3 Gedanken

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27JAN2021
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Ein schäbiger Holzkreisel in einer Glasvitrine. So alt wie ein Jahrhundert. Die Farbe blättert ab. Links und rechts neben dem Holzkreisel stehen kostbare Porzellanfiguren, Kristallvasen und Sammeltassen. Was macht dieser Kreisel hier?

Der gehört mir gar nicht, erklärt die alte Dame, die hier wohnt. Er gehörte einem Nachbarsmädchen namens Gisela. Sie war meine Freundin. Wie oft haben wir mit diesem Kreisel gespielt. Und wenn er durch den Hof wirbelte, hat sie sich mit ihm gedreht. Ihre braunen Locken flogen, ihre Augen blitzten.

Was aus ihr geworden ist, will ich wissen. Die alte Dame zuckt mit den Achseln und ihre Augen gleiten in die Vergangenheit. Eines Tages war sie weg, erzählt sie schließlich. Schon lange hatten wir nicht mehr im Hof gespielt, weil sie gar nicht mehr nach draußen durfte. Zu gefährlich für jüdische Kinder. Und eines Tages kam ein Lastwagen in der Morgendämmerung und hat sie mitgenommen. Mitsamt ihren Eltern.

Aber ich hatte noch ihren Kreisel. Erzählt die alte Dame. Sie hatte ihn mir geliehen, er lag in meiner Spielzeugkiste. Ich wollte ihn ihr zurückgeben. Aber das ging ja jetzt nicht mehr. Da habe ich ihn halt behalten. Und irgendwie hat er die Zeit überstanden. Ich habe sie gesucht, die Gisela. Nach dem Krieg. Aber niemand wusste etwas. Erst viele Jahre später habe ich ihren Namen gelesen. Auf einer Gedenktafel für die in Auschwitz ermordeten Männer, Frauen und Kinder.

Im Zimmer ist es still. Irgendwie scheint der Kreisel größer geworden zu sein. Er spiegelt sich im Glas der Vitrine. Und in den Augen der alten Dame sehe ich ein kleines Mädchen mit braunen Locken und blitzenden Augen. Das sich dreht und dreht und dreht.

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