SWR2 Wort zum Tag

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23JAN2021
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Es gibt Menschen, die sich selbst misshandeln. Manche tun das, um innere Konflikte zu verarbeiten. Jungs, die Druck ablassen, wenn sie ihren Körper beim Sport weit über die Erschöpfung hinaus quälen oder sich in Alkohol und Drogen flüchten. Aber auch Mädchen, die sich die Arme oder Schenkel ritzen und solche, die sich fast zu Tode hungern und magersüchtig werden.

Mir war so ein Verhalten am Anfang so fremd, dass ich gar nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Vor allem, ob ich es überhaupt ansprechen darf, was ich beobachtet habe, wenn z.B. ein Mädchen versucht seine Arme unter langen Ärmeln zu verstecken, obwohl es im Raum ziemlich warm ist.

Recht schnell war mir klar, dass sich nichts ändert, wenn ich nicht darüber spreche. Wenn es mir aber gelingt, sie anzusprechen und nachzufragen, ohne sie zu verurteilen, ändert sich schon bald sehr viel.

Wenn ich ihnen offen gesagt habe, was ich beobachte, und dann mit echtem Interesse nachgefragt habe, wieso sie das tun, habe ich meistens ähnliche Antworten bekommen: „Wenn ich mich ritze, spüre ich nur noch diesen Schmerz. Aber mein Stress ist dann für diesen Moment wie weg.“

Ein bisschen kann ich das verstehen. Aber Lösung ist es keine.

Bei vielen kommt noch etwas dazu. Sie versuchen, ihre Wunden vor anderen zu verstecken. Aber das machen sie oft so auffällig, weil sie unbewusst doch entdeckt werden wollen mit ihrer Not.

Bei Mädchen, die magersüchtig sind, ist das ähnlich. Sie sind auf den ersten Blick sehr diszipliniert. Aber je magerer sie werden, desto kindlicher und hilfsbedürftiger scheinen sie irgendwann. Auch das wirkt auf mich oft wie ein Hilferuf. Sie wollen, dass ein Erwachsener sich Sorgen um sie macht und sich um sie kümmert.

Bei vielen Jugendlichen ist dieser Wunsch stark. Sie werden zwar langsam erwachsen, sie wollen aber gleichzeitig, dass die Erwachsenen sich um sie sorgen und ihnen Geborgenheit geben.

Ich kann verstehen, dass man diesen Wunsch hat, wenn man erwachsen wird. Und in der Schule arbeiten wir mit den Eltern daran, dass die jungen Leute mit diesem Wunsch nicht zu kurz kommen. Meistens hilft es schon viel, wenn wir über das sprechen, was bisher unausgesprochen ist.

Aber jedes Mal, wenn ich damit zu tun habe, denke ich auch über mich selbst nach. Ich bin älter und erwachsener, aber ich habe doch genauso diesen Wunsch, dass andere sich um mich kümmern und dass ich bei den Menschen in meinem Umfeld geborgen bin. Dass ich mich nicht immer stark und kontrolliert zeigen muss, sondern dass ich in der Partnerschaft und bei meinen Freunden auch zeigen darf, wo ich schwach bin. Ich bin überzeugt, auch jeder Erwachsene braucht solche Umgebungen, in der er geborgen ist.

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