SWR2 Wort zum Tag

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21JAN2021
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Ich war als junger Mensch zweimal in Berlin, bevor die Mauer gefallen ist. Aber ich erinnere mich noch gut an dieses Gefühl, das ich damals hatte. Obwohl ich mich im westlichen Teil der Stadt frei bewegen konnte, habe ich mich irgendwie unfrei gefühlt. Eingesperrt, ohne dass ich eingesperrt war.

Im Moment fühle ich mich manchmal ganz ähnlich. Obwohl ich nachts gar nicht aus dem Haus will, fühlt es sich durch die Ausgangssperre so an, als ob ich nicht frei wäre. Vermutlich ist es mal wieder so: Erst wenn ich etwas nicht mehr habe, weiß ich, wie kostbar es ist.

Klar, ich weiß, dass das wieder anders wird und ich dann zu jeder Tages- und Nachtzeit tun und lassen kann, was ich will. Die Einschränkungen, die wir alle in Deutschland wegen der Corona-Pandemie gerade erleben, sind notwendig. Deshalb mache ich das alles auch ohne Widerspruch mit. Wir schützen so die älteren Menschen und leisten unseren Beitrag, dass die Leute, die in den Krankenhäusern arbeiten, nicht zusammenbrechen und die Kranken versorgen können. Das ist es wert. Keine Frage.

Trotzdem nagen die Einschränkungen an mir.  Ich denke dann auch an Menschen, die in einem diktatorischen Staat leben, deren Bewegungen überwacht werden oder die in Haft sind. Und an die, die gesundheitlich so eingeschränkt sind, dass ein freies Leben nicht möglich ist, die nicht überall hin können, wie sie möchten.

Ich glaube, auch in dieser Hinsicht ist es gut, dass ich diese Einschränkungen für eine gewisse Zeit erlebe. Denn ich verstehe jetzt andere Menschen, die diese Freiheit nicht haben, besser und kann vermutlich leichter mit ihnen fühlen.

Ich nehme mir deshalb folgendes vor: Wenn ich dieses unangenehme Gefühl habe und mich unfrei fühle, will ich es in eine Art von Mitgefühl ummünzen. Ich denke dann an eine Bekannte, das ständig ertragen muss, weil sie in den vier Wänden ihres Zimmers im Pflegeheim gefangen ist.

Wenn es dann trotzdem noch schmerzt, dass ich nicht so frei bin, wie ich gerne möchte, ist das meine Sehnsucht, die ich wichtig finde. Und Sehnsucht tut immer ein bisschen weh. Weil es um etwas Kostbares geht..

Ich bin überzeugt, dass mich dieser Freiheitsentzug mündiger machen kann. Weil er auf Zeit ist, weil ich ihn bewusst mittrage zum Wohl aller und weil ich durch den Mangel besser erkenne, was es wert ist, dass ich frei bin.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32461
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