Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

09JAN2021
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Wenn es nicht so läuft, wie ich es gerne hätte, dann schreie ich bei geschlossenen Autofenstern die anderen laut an. Von denen kann keiner richtig Auto fahren, finde ich dann. Der eine fährt bei grün nicht los, die andere bremst grundlos ab. Und ich werde in meinem Auto zur Furie. Einerseits tut es gut und andererseits erschrecken mich meine Ausbrüche.

Was steckt hinter meiner Wut? Mehreres vermutlich. Die Anstrengungen des letzten Jahres, die gerade schon zu Anstrengungen des neuen Jahres werden. Immer noch Lockdown. Die Sehnsucht, mit Freundinnen ins Kino zu gehen, anschließend noch in die Ginbar und dann lachend und eingehakt durch die Stadt nach Hause zu laufen. Ein Konzert. Dicht an dicht möchte ich lauthals mit anderen singen. Und manchmal braucht all das ein Ventil.

In der Bibel betet eine: Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Gott ist das Gegenüber ihres Schreis. Unruhig, bedrängt sehnt sie sich nach dem lebendigen Gott. Mir gefällt diese direkte Beziehung. Gott als Adressat all meiner Empfindungen. Direkt, ungefiltert kann ich alles vor ihn bringen und das schließt die Wut und die Schreie mit ein. Es ist das eine, in einem Gottesdienst mit anderen zusammen zu beten oder mit Gott zu Hause in die Stille zu gehen. Aber ihm den Schmerz und die Wut zuzumuten, dazu braucht es Mut. Gehört sich irgendwie nicht, Gott anzuschreien, so dachte ich lange.

Jetzt übe ich das und habe eine ganz neue Erfahrung gemacht: Manchmal gehe ich alleine in den Wald. Und dann schreie ich. Ich schreie all das raus, was mir auf der Seele liegt. Den eigenen Schmerz und den Schmerz über die Welt. Und ich stelle mit dabei vor, dass ich zu Gott hin schreie. Nach einiger Zeit bin ich nicht nur heiser, sondern ausgeschrieen und leer. Und irgendwie wird es in dieser Leere dann warm. Und ich kann mich neu dem Tag zuwenden. Wenn sie es brauchen: Schreien Sie heute doch auch mal hin zu Gott.

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