SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

10DEZ2020
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"Wir brauchen vier Umarmungen pro Tag zum Überleben. Acht Umarmungen, um uns gut zu fühlen. Und zwölf zum innerlichen Wachsen." Das hat eine amerikanische Familientherapeutin im letzten Jahrhundert beobachtet. Heute belegen es Studien: Sich umarmen, kuscheln oder einfach liebevoll berühren ist lebenswichtig. Doch wie geht es Menschen, die während der Corona-Zeit kaum Kontakte haben und wenig Umarmung erfahren?

Sehr bewegt hat mich, wie eine Frau aus Norddeutschland diese Zeit erlebt: „Was mich derzeit immer wieder berührt ist meine Lieblingskuh, die gerne mit mir kuschelt. Schon wenn ich auf die Weide zulaufe und zu rufen beginne, setzt sie sich in Bewegung. Sie kommt zum Gatter, wo sie sich von mir streicheln lässt. Sie reibt dann ihren Kopf an mir und muht dabei leise vor sich hin. Sie duftet so herrlich nach Wiese und strahlt so viel Wärme ab – ich fühle mich bei ihr geborgen. Sie ist seit dem 8. März mein einziger Knuffelkontakt. Gerne singe ich ihr etwas vor, was sie offenbar mag. … Dennoch sehne ich mich sehr nach einer Umarmung. Ich weiß schon nicht mehr, wie sich eine andere Hand anfühlt und ob ich die Erfahrung je wieder werde machen dürfen ...“[1]

Von Jesus gibt es viele Erzählungen, die zeigen, welche Kraft eine Berührung hat. Als er zum Beispiel einem Taubstummen seine Finger an die Ohren legt und mit seinem Speichel die Zunge des Mannes berührt. Doch was macht diese Kraft aus? Jesus berührt den Taubstummen nicht nur körperlich. Er berührt ihn innerlich. Er nimmt ihn beiseite, er nimmt sich Zeit für ihn. Auch wenn es nur ein kurzer Augenblick ist: es entsteht eine Beziehung zwischen den beiden, eine tiefe Vertrautheit. Die ist notwendig, damit sich der Taubstumme öffnen kann. Diese Berührung setzt Lebensenergie frei. Jesus weiß das und lässt sich selbst immer wieder berühren: Die Prostituierte darf seine Füße küssen. Einem Jünger bietet er seine Brust als Ruhepolster an.

Wer keinen menschlichen Kuschelpartner hat, muss deswegen nicht völlig verzweifeln. Helfen können zwei Dinge: Auch das Streicheln von Hunden schüttet Glückshormone aus, das zeigen Untersuchungen. Das gilt bestimmt auch für das Knuffeln von Kühen.  Aber nicht nur der direkte Körper- oder Fellkontakt ist heilsam. Sondern auch die inneren Bilder von Berührung. Schon wenn ich mir das vorstelle, es mir wünsche oder mich an frühere Umarmungen erinnere. Was in der Seele guttut, das überträgt sich auf den Körper. Und trotzdem müssen wir in diesen Monaten schmerzlich erleben: Berührung kann nicht wirklich ersetzt werden. Es bleibt tatsächlich nur: aushalten, abwarten – und sich freuen auf das was kommt: Ganz viel umarmen, Hand halten, drücken und viel vertraute Nähe.

 

[1]in: Newsletter „die andere Zeit“, 14. November 2020

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32165
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