SWR2 Wort zum Tag

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23NOV2020
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Herr Tur Tur ist ein Scheinriese. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer begegnen ihm auf ihrer Abenteuerreise in der Wüste. Das Besondere an Herrn Tur Tur ist: je weiter er entfernt ist, desto größer sieht er aus. Und je näher man ihm kommt, desto mehr schrumpft sein Erscheinungsbild. Steht man direkt vor ihm, dann ist er nicht größer ist als ein ganz normaler Mensch.

Lange Zeit habe ich gedacht, einen solchen Scheinriesen gibt es nur im Roman von Michael Ende, bis ich entdeckt habe, Scheinriesen gibt es öfters auch mal in meinem eigenen Leben.

Immer wieder ertappe ich mich dabei, dass anstehende Aufgaben mir größer erscheinen als sie tatsächlich sind. Vor allem dann, wenn sie vermeintlich unbequem sind. Zum Beispiel, wenn ich jemandem absagen muss, der gehofft hat, dass ich ihn unterstützen kann. Ähnlich geht es mir, wenn ich etwas Wichtiges entscheiden muss, mir aber unsicher bin, was ich wirklich will, oder wenn ich eine Veranstaltung planen soll, ohne dafür eine zündende Idee zu haben.

Ich neige dann dazu, diese Dinge vor mir herzuschieben. Aber je weiter ich sie wegschiebe, umso größer werden sie in meinem Kopf. Und so lange sie unerledigt sind, beschäftigen sie mich immer wieder, lassen mich schlecht schlafen und machen mir Druck.

Irgendwann ist dann doch der Zeitpunkt gekommen. Ob ich will oder nicht, die Aufgabe lässt sich nicht mehr weiter hinauszögern und ich packe sie an. Dann zeigt sich oft dieses sonderbare Phänomen. Sobald ich damit beginne verliert die Aufgabe Schritt für Schritt ihren Schrecken. Ist sie erledigt, dann wundere ich mich im Nachhinein, warum sie mir zuvor so groß vorgekommen ist.

In der Geschichte von Michael Ende fasst sich Lukas der Lokomotivführer kurzerhand ein Herz. Er sagt ganz ruhig zu Jim Knopf: „Nun ja, bloß weil er so groß ist, braucht er doch noch lange kein Ungeheuer sein“, und dann geht er auf Herrn Tur Tur zu. Das erweist sich dann als ihre Rettung.

Herr Tur Tur gibt ihnen neuen Proviant und zeigt ihnen den Weg aus der Wüste. Dank seiner Hilfe können sie ihren Weg fortsetzen.

So ähnlich geht es mir auch. Wenn ich eine dieser scheinbar übergroßen Aufgaben geschafft habe, dann geht es auch mit allem anderen wieder besser weiter. Ich fühle mich befreit und gestärkt. Deshalb habe ich mir fest vorgenommen: Wenn demnächst mal wieder so ein Scheinriese in meinem Leben auftaucht, dann sage ich zu mir selbst den Satz von Lukas dem Lokomotivführer: „Nun ja, bloß weil er so groß ist, braucht er doch noch lange kein Ungeheuer sein.“

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