SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

22NOV2020
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„Somewhere over the rainbow“ – irgendwo hinter dem Regenbogen liegt ein wunderbares Land. Wenn ich dieses schöne Lied auf einer Beerdigung höre, dann denke ich immer: Was soll ich noch viele Worte machen. Dies Lied drückt es so viel besser aus.

Wenn Sie mich fragen würden, ob ich weiß, was nach dem Tod kommt – dann müsste ich natürlich passen. Ich weiß es nicht. Keiner weiß es. 

Aber ich glaube: Unser Herz weiß es. Und unsere Seele. Auch wenn kluge Leute jetzt vielleicht die Nase rümpfen. Wenn ich am Sarg eines Menschen stehe, den ich geliebt habe, dann hilft mir nichts Kluges. Keine Wissenschaft, keine Philosophie, nicht einmal Theologie. Aber dann hilft mir vielleicht ein Lied. Eins, das auf der ganzen Welt seit Jahrzehnten gesungen wird. Mit Bildern, die keiner Wissenschaft standhalten. Aber die das Herz und die Seele ansprechen. So dass alle Sorgen schmelzen wie lemon drops, wie Zitronenbonbons. Ein süß-saurer Bonbon, der auf der Zunge schmilzt.

Dieses Lied nimmt mich an der Hand und führt mich aus der traurigen, dunklen Wirklichkeit des Abschieds in ein Traumland. Somewhere over the rainbow way up high – irgendwo weit da oben, hinter dem Regenbogen – there's a land that I heard of once in a lullaby – da liegt ein Land, von dem ich einmal in einem Schlaflied gehört habe.

Schlaflieder, die singt man Kindern vor. Aber meine Mutter hat meinem Vater am Sterbebett auch immer eins vorgesungen. Ein altes, das sie noch von ihrer Mutter gekannt hat. Ein Schlaflied ist durchaus etwas, das ich auch als erwachsener Mensch ernst nehmen kann. Vielleicht weiß es mehr als die erwachsene Klugheit. Denn was ich für Kinder singe, muss viel mehr leisten. Kinder haben viel mehr Angst und Unsicherheit als Erwachsene. Was kann sich nicht alles im nachtdunklen Zimmer verstecken! Schreckliche Wesen, die einen mitnehmen. Schlafen, das ist für ein kleines Kind nicht Ruhe, sondern Alleinsein im Dunkeln. Das ist wie Sterben.

Da kommt das Schlaflied zum Einsatz. Das lullaby, wie es auf Englisch so schön und sanft heißt. Das Lied besiegt die dunklen Mächte, die Angst, die Finsternis. Es bringt Sicherheit zurück. Es ist jemand bei mir. Das muss ein Kind hören. Das muss ein Sterbender hören. Das müssen auch die hören, die einen lieben Menschen ins Dunkel abgeben mussten. Ins Nichts, das keiner kennt.

Doch, du kennst es, versichert das Lied dem Herzen und der Seele. Es ist ein wunderbares Land. Da oben hinter dem Regenbogen. Du kennst es so gut. Du setzt deinen Fuß hinein und kennst dich sofort aus. Da ist Glück, da ist Liebe, da wird alles gut.

Der Regenbogen hat Menschen schon immer in seinen Bann gezogen. Ziemlich am Anfang der Bibel, da kommt er auch vor, in der Geschichte von der Sintflut. Die Menschen haben sich entsetzlich auf ihren falschen Wegen verirrt. Es ist immer schlimmer geworden. Da hat ein gewaltiger Regen alles ausgelöscht. Vierzig Tage lang. Nur eine Familie und einige Tiere haben überlebt, in dem großen Kasten, der Arche, die Noah gebaut hat. Aber irgendwann war der Regen vorüber, das Wasser ist gesunken. Vorsichtig treten die Menschen und Tiere auf die Erde. Da sehen sie einen großen Regenbogen. Und sie erfahren, dass Gott diesen Bogen als Erinnerungszeichen benutzt – für die Menschen, aber auch für sich selbst. Solange dieser Bogen da ist, wird alles gut. Die Welt geht nicht unter.

Nun, ich kenne Menschen, für die ist die Welt untergegangen. Und ich denke heute an die Menschen, die in diesem Jahr wegen der Pandemie nicht Abschied nehmen konnten wie sonst. Das ist eine graue und dunkle Wirklichkeit. Doch irgendwo hinter dem Regenbogen, sagt das Lied, irgendwo da liegt ein wunderbares Land. Dieses Land steht nicht zu meiner Verfügung. Es ist weit weg. Und doch in meinem Herzen ganz nah. Die Farben dieses Zauberlands färben alles Graue und Dunkle. So wie der Regenbogen am stärksten vor schwarzen Wolken leuchtet. Es ist ein wundervoll leuchtender, bunter Traum

In den evangelischen Kirchen werden heute die Namen der Menschen vorgelesen, die in den letzten zwölf Monaten gestorben sind. Sie sind tot, aber sie haben immer noch einen Namen. Er wird in der Kirche vorgelesen, er steht auf dem Kreuz oder auf dem Grabstein. Diese Namen sind nicht Schall und Rauch. Die Menschen dazu haben sich nicht in grauen Nebel aufgelöst. Meine Gefühle begleiten sie, über das Dunkel hinaus, dorthin, wo der Regenbogen leuchtet, und noch weiter. Dort liegt ein Land, das ich als Kind gekannt habe – bevor ich Worte hatte, um es zu benennen.

An der Schwelle zu diesem Land muss ich jetzt Abschied nehmen. Doch die Weisheit des Herzens und die Kraft der Seele, die wissen von diesem Land. Sie wissen, dass kein Abschied einer für immer ist. Mit diesem Wissen kann ich die Augen schließen. So wie ich sie als Kind geschlossen habe, wenn das Schlaflied alles um mich herum in Sicherheit und Geborgenheit verwandelt hatte. Jetzt leuchtet der Himmel, und alles wird gut.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32071
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