Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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21NOV2020
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Ich bin 74 – ach nein, ich bin 73, werde erst nächste Woche 74. Eigentlich noch zu jung. Sagt der Patient – ich finde das auch. Leider ist er schwer krank, bekommt viel zu wenig Luft und „man weiß ja, wo das hingeht“. Ja. Hoffentlich dauert es noch eine Weile. Er hat zwar schon alles geregelt, was Finanzen angeht und Erbe und dass er keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr will.

Aber da ist noch der Sohn aus seiner ersten Ehe. In Kiel. War 16, als die Eltern sich scheiden ließen, kein Kind mehr, auch nicht erwachsen. Stellte sich ohne jeden Zweifel auf die Seite der Mutter, wollte mit seinem Vater nichts zu tun haben. Vater böse, Mutter gut, so schwarz-weiß war seine Welt. Sehr seltene, unerfreuliche Kontakte. Jetzt seit zwei Jahren Funkstille.

„Das ist mir zu dramatisch, dem jetzt zu schreiben: Vater ist todkrank, lass uns reden“.

Stimmt, das ist auch zu dramatisch. Trotzdem sollte die Kontaktaufnahme bald sein. Dann könnte er dem Sohn schreiben: ich bin ernsthaft erkrankt. Ich möchte gern nochmal mit dir reden. Kannst du in die Eifel kommen? Der Sohn wird das schon richtig verstehen und kann überlegen, was er tun will.

Die zweite Frau ist dagegen. Der bekommt ja dann vom Gericht die Mitteilung, wenn sein Vater tot ist, das reicht, findet sie. Sie ist nicht neutral, weil sie weiß, wie es ihren Mann gequält hat, den Sohn nicht zu sehen.

Herr Meyer fühlt noch Liebe zu dem Sohn. Er will nicht, dass dieser dann, wenn alles zu spät ist, denkt: „hätte ich doch, wäre ich doch, wenn doch bloß alles anders gelaufen wäre“.

Ich glaube, der Vater wird noch die Kraft aufbringen, diese alte Geschichte, soweit es möglich ist, zu klären. Er wird sich die Vorwürfe des Sohnes anhören. Vielleicht kann er ihm auch seine Sicht auf die Trennung vermitteln. Vielleicht gibt es noch gute Worte zwischen Vater und Sohn.

Ich drücke beiden die Daumen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32026
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