SWR2 Wort zum Tag

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14NOV2020
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Merkwürdig, dass ein Mensch über 700 Jahre hinweg so unmittelbar zu einem sprechen kann. Bei Meister Eckhart entsteht jedenfalls für mich der Eindruck, er spräche zu mir von Herz zu Herz. Und dabei so alltagsnah und lebenspraktisch. „Nimm dich selbst wahr, und so viel du dich findest, so viel lass dich“, lautet z.B. eine ganz handfeste Empfehlung von ihm. Nicht großartige Vorsätze und erhebende Gedanken sind demnach entscheidend, schon gar nicht Gottesspekulationen. Nein, schlicht das Staunen über das eigene Dasein. Die Menschen sollen nicht von dem ausgehen, was sie sein sollen oder sein möchten, sondern was sie sind. Nüchterne Bestandsaufnahme also, liebevoll und achtsam – so wie man eine Sammlung von Juwelen betrachtet oder über den Sonnenaufgang heute Morgen staunt. Nichts ist überraschender als dass ich da bin, und du und die Welt.

Ganz Christenmensch ist Meister Eckhart davon überzeugt, dass die Welt kein Zufallsprodukt ist. Der Mensch ist kein Blindgänger, vielmehr Gottes Bild und Stellvertreter. In der Schöpfung und im Geschöpf ist der Schöpfer selbst ständig am Werk, denn sonst wären sie nicht. Das gilt es staunend zu erkennen und anzuerkennen. „Nimm dich selbst wahr“ – damit fängt alles an. Das heißt aber gerade nicht herum zu grübeln. Nein, es gilt, dem grundlosen Grund zu trauen, ohne den nichts wäre – Gott. Warum blüht denn jeder Mensch auf, wenn er gelobt wird und Wertschätzung erfährt? Weil er aus einer größeren Liebe stammt! Woher weiß jeder Mensch zutiefst, was gut ist und guttut, mag es auch noch so verkorkst und verfälscht worden sein? Weil  schöpferische Güte die Sphärenmusik des Daseins ist. Kaum einer hat so großartig über das Wunder der fortwährenden Schöpfertreue Gottes gesprochen wie Meister Eckhart. Nimm dich selbst wahr, und darin das Wunder von allem, das Leben als Geschenk.

Aber das was der Mensch ist, soll er nun endlich auch werden. Schöpfung ist ein fortwährender Prozess, Eckhart nennt ihn Bildung. Gottes Bild, das der Mensch ist, soll in ihm endlich auch zur Entfaltung kommen. Deshalb nicht nur „nimm dich selbst wahr“, sondern: “So viel du dich findest, so viel lass dich“, verlass dich. Damit du offener wirst für Gottes Gegenwart hier und jetzt schon. Wörtlich Eckhart: „Ich will Gott nicht darum bitten, dass er mir gebe; ich will ihn auch nicht dafür loben, dass er mir gegeben hat. Ich will ihn vielmehr darum bitten, dass er mich fähig mache zu empfangen“.

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