SWR2 Wort zum Tag

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11NOV2020
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Als junger Mann hatte der heilige Martin spontan seinen Soldatenmantel zerschnitten und mit einem frierenden Bettler geteilt. Das war damals im 4. Jahrhundert nicht selbstverständlich, und das ist es heute auch nicht. Ein anderes Ereignis aus seinem Leben ist jedoch nicht minder typisch.

Demnach sah Martin einmal eine himmlische Lichtgestalt wie im Traum. Es schien ihm Christus selbst zu sein, gekommen, um ihm für seine Gottes-und Nächstenliebe zu danken. Natürlich war Martin über den überraschenden Besuch hoch erfreut, und wer wäre das nicht. Aber dann doch sehr irritiert durchschaut er die raffinierte Maske des Bösen: „Wo sind denn deine Wunden?“, fragt er wie zum Beweis zurück. Daraufhin redet sich der himmlische Strahlemann heraus, er wolle ihm besonders in seiner österlichen Lichtgestalt erscheinen, bewusst ohne Leidensgeschichte und Wundmale. Darauf antwortet Martin nach kurzer Stille scharf und entschieden: „Hau ab, du bist der Teufel“.

In der Tat: Ein österlicher Christus ohne Karfreitag ist zwar eine verständliche Wunschvorstellung, aber in Wahrheit eine teuflische Versuchung. Wer wünschte sich nicht eine Welt ohne Gewalt und Leid, ein Leben nur im Gelingen und Strahlen. Aber das gibt es eben jenseits von Eden nicht. Zur Welt kommen, heißt auch verwundbar zu sein, es heißt, verletzt zu werden und zu verletzen. Wie viele trauen sich gar nicht ins volle Leben, weil das Risiko so groß ist, einander zu enttäuschen und weh zu tun. „Zeige deine Wunden“ - das heißt ja gerade nicht Wunden lecken und auf Mitleid machen. Es bedeutet vielmehr, sich Blößen geben zu dürfen.

Der heilige Martin hat Recht: Es macht geradezu die Mitte des Christlichen aus, an einen gekreuzigten Christus zu glauben – für immer erkennbar an seinen Verletzungen. Ja, dieser Jesus hat sich selbst riskiert und ausgesetzt, er hat sich berührbar gemacht und verletzbar gezeigt. Er ist mitten hineingegangen in die elenden Gewalt- und Leidensgeschichten, um der Feindesliebe zum Sieg zu verhelfen. Nochmal: es geht nicht um Verklärung des Leidens, nicht um Wunden-Kult, das wäre ein schlimmes Missverständnis.  Sich aber himmlische Gefühle zu erschleichen, indem man die Frage nach Leid und Gewalt einfach weg verklärt, hält der Realität nicht stand. Der heilige Martin steht für den österlichen Realismus, der die vielen Karfreitage nicht vergisst. Er ist in der Tat ein Musterbeispiel christlicher Unterscheidungskraft.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=32019
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