Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

10NOV2020
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Neulich habe ich wieder einen schreien gehört, wie häufiger in letzter Zeit. Und das Megafon, in das der Mann gebrüllt hat, hat seine Stimme so verzerrt, dass ich nicht recht verstehen konnte, was er da mitteilen wollte. Sicher einer der Virusleugner oder ein selbsternannter Verfassungsschützer, habe ich spöttisch gedacht. „Wer schreit, hat Unrecht“ fiel mir da ein und ich habe nicht weiter zugehört.

Die Bibel berichtet von einem Mann, der ebenfalls geschrien hat. Blind und ausgestoßen saß er am Straßenrand, ohne Perspektiven, frustriert vom Leben. Als er hört, dass Jesus von Nazareth an ihm vorbeiläuft, da schreit er. Er schreit nach Erbarmen, nach Zuwendung, nach Beachtung. Und Jesus dreht sich zu ihm um und fragt: „Was willst du? Was soll ich für dich tun?“

Diese Frage verwundert mich. Es ist doch klar, was ein blinder Mann möchte – sehen natürlich. Oder doch mehr? Steckt in dem tiefen Wunsch zu sehen, auch der Wunsch gesehen zu werden? Beides wird ihm wichtig sein, diesem Mann am Straßenrand. Ich kann mir vorstellen er hat nicht nur geschrien, weil er selbst nichts sieht. Er schreit auch, weil er nicht gesehen wird und sein Schicksal scheinbar niemanden interessiert. Ich habe Mitgefühl mit diesem Mann. Und plötzlich fällt mir der Mann mit dem Megafon wieder ein, für den ich so gar nichts übrig hatte. Und ich frage mich, welche Wünsche und Sorgen hat dieser Mann? Wonach schreit er?

Ich glaube, ich muss neu und anders auf die Menschen um mich herum hören, die laut sind. Nicht, weil ich ihnen zustimmen möchte. Keineswegs. Aber weil ich sehen möchte, welches Schicksal, welche Krankheit, welche Erfahrungen sie laut werden lassen. Warum schreien sie so?

Ich gehöre zu denen, die sagen, dass es für die großen Fragen unserer Zeit keine einfachen Antworten gibt. Also kann ich es mir selbst auch nicht so einfach machen mit denen, die lauthals protestieren. Sicher, alles Verständnis und Hinhören hat seine Grenzen. Aber hinter jedem Schrei steckt ein Mensch, dem ich zumindest eine Chance geben möchte.
„Was willst du? Was kann ich für dich tun?“ Ich finde das ist eine wertvolle Leitfrage, im Umgang mit Andersdenkenden, ja im Umgang mit Menschen überhaupt. Was sind deine Bedürfnisse, was brauchst du? Warum schreist du? Sie nimmt mein Gegenüber ernst und lädt ein, offen ins Gespräch zu gehen. Und sie nimmt mich ernst. Ja, vielleicht kann ich helfen. Ich kann sicher nicht heilen, kann die großen Fragen unserer Gesellschaft nicht lösen. Aber ich kann damit anfangen. Ich kann zuhören und mich fragen, was ich für andere tun kann. Für Leisetreter und Lautschreier.

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