Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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14NOV2020
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Mein Leben ist endlich. Und ich habe nicht alles im Griff.  Das sind zwei Sätze, die kaum einer wahrhaben will.

Ein kluger Philosoph hat deshalb gesagt: Es gibt zwei Illusionen, denen die meisten Menschen erliegen. Da ist einmal die Illusion der Endlosigkeit; also die Überzeugung, wir hätten noch unendlich viel Lebenszeit vor uns. Und die Vollendungsillusion; also die Vorstellung, wir könnten alles gut zu Ende bringen, was wir angefangen haben.

Ich glaube, er hat recht: Solange das Leben in seinen geordneten Bahnen verläuft, merkt man kaum, dass das nur Scheinwahrheiten sind. Wie es aussieht, habe ich alles bestens im Griff. Erst wenn ich die vermeintliche Kontrolle verliere, gehen mir die Augen auf. Wenn ich etwa schwer erkranke - mir das Schicksal also plötzlich den Boden unter den Füßen wegzieht. Und ich erkennen muss: Auf die wesentlichen Dinge habe ich gar keinen Zugriff. 

Wer so heftig aus seinen Illusionen wachgerüttelt wird, ist hinterher meist ein anderer Mensch. Denn da bin ich mit meiner Endlichkeit konfrontiert. Und danach ist nichts mehr so, wie es war; die Zukunftspläne - durchkreuzt.

Für die Umwelt ist so eine Veränderung oft schwer zu begreifen. Die anderen können ja nur da anknüpfen, wo sie stehengeblieben sind, mit ihren Illusionen. Deshalb sagen sie auch so Dinge wie: „Du schaffst das schon.“ Oder „Du bist doch eine Kämpferin!“

Wer aber gerade mühsam begriffen hat, dass sein Leben endlich ist, für den klingen solche Sätze hohl und banal. Ganz so, als ob man ihn erneut mit der Illusion abspeisen wollte, alles sei machbar: Dass es nämlich ganz allein an mir liegt, wie die Sache ausgeht. Wenn ich mich nur genügend anstrenge...

Nach einer schweren Krise weiß ich aber: Das sind nur Scheinwahrheiten, die mir nicht weiterhelfen. Und wenn ich meinen inneren Frieden finden will, muss ich anerkennen, dass ich längst nicht alles selbst in der Hand habe. Das ist ein mühsamer Weg. Und doch kann nur so ganz allmählich das Einverständnis in einem Menschen reifen:

Am Ende des Lebens kann ich nichts mehr machen. Alles geschieht. Und es ist gut.

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