Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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04NOV2020
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„Super-kranke Realität“. So steht es an der Brücke, mit dicken Buchstaben draufgesprüht. Da hat einer öffentlich ausgedrückt, wie es ihm derzeit mit der Wirklichkeit geht, vielleicht angesichts der Corona-Pandemie: „super-kranke Realität“.

Wörtlich genommen heißt das: Die Wirklichkeit ist krank, sie ist nicht normal; es stimmt etwas nicht mit dem, so wie es ist. Aber kann das überhaupt sein, dass die Wirklichkeit krank ist? Ein Mensch, ein Tier, ein Lebewesen kann krank sein. Die Realität kann ungewohnt sein, sperrig, schwer auszuhalten - aber nicht krank.

Also ist das Graffiti, richtig verstanden, ein Aufschrei, ein Hilferuf: „Hilfe, ich komme mit der Wirklichkeit nicht mehr klar. Sie ist so furchtbar, sie ist anstrengend für mich. Kann mir jemand sagen, wie ich besser mit der Realität auskommen kann, wie sie ist?“

Eine meiner meistgebrauchten Redewendungen lautet: „Es ist, wie es ist.“ Das sage ich dann, wenn ich mich über etwas wundere, was eigentlich nicht so sein sollte. Aber „es ist, wie es ist.“ Das sage ich dann mit einem gewissen inneren Seufzen - denn ich hätte auch manches gerne anders - in der Welt, in der Gesellschaft, auch in der Kirche und bei mir selbst. Aber gerade deshalb ist es wichtig, dass ich zunächst sehen und annehmen kann, dass es so ist, wie es nun mal ist. Wenn ich die Realität nicht als solche anerkenne, dann hat sie mich erst recht im Griff. Erst, wenn ich mich mit der Realität versöhne, ja anfreunde, dann kann ich gut mit ihr umgehen, ohne unnötigen Kräfteverschleiß und ohne Blockaden. Und dann kann ich sie auch verändern, soweit es möglich ist.

Und das beginnt damit, dass ich mich selbst, meine eigene Wirklichkeit, so sehen kann, wie sie ist. Je mehr ich mich mit meinen unliebsamen Seiten annehmen kann; je tiefer ich wirklich „Ja!“ sagen kann zu mir selbst, desto besser kann ich auch zu anderen und zur Wirklichkeit im Ganzen „Ja!“ sagen - und so mit ihr umgehen, dass es dabei mir und allen anderen gut gehen kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31963
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