SWR2 Wort zum Tag

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Eigentlich hätte er ein typischer Aufsteiger werden können.
Die Möglichkeiten dazu hätte er gehabt. Ein typischer Aufsteiger: Damit meine ich einen Menschen, der es geschafft hat, sein Herkunftsmilieu hinter sich zu lassen. Der dann aber auch alles daran setzt „oben“ zu bleiben. Und wie der Teufel das Weihwasser scheut es der Aufsteiger, mit „denen da unten“ wieder in Berührung zu kommen. Als typischer Aufsteiger will er nicht mehr sehen und wissen, wie es denen geht, zu denen er selbst einmal gehört hat. Er ist stolz, es aus eigener Kraft geschafft zu haben, und die Kehrseite dieses Stolzes: Berührungsangst.
Johann Hinrich Wichern stammte aus einfachen Verhältnissen. Ist aufgestiegen. Aber hat solche Berührungsangst nicht entwickelt. Im Gegenteil.
Ich frage mich: Was kann einen davor bewahren, aufsteigertypisch zu werden?
Vor 200 Jahren ist Johann Hinrich Wichern, der Begründer der modernen evangelischen Diakonie geboren. An seinem Vater konnte er beobachten, wie man es schafft. Der hatte sich vom einfachen Schreiber zum Notar hochgearbeitet.
Aber dann der Bruch: Als Johann Hinrich 15 ist, stirbt der Vater. Er muss Geld verdienen und für seine 6 Geschwister sorgen. Mit 20 ermöglichen ihm Freunde dann doch noch das Theologiestudium. Eigentlich ein ideales Sprungbrett, Milieugrenzen auf Dauer hinter sich zu lassen.
Aber anscheinend ist Wichern in diese Versuchung nie ernstlich geraten. Im Gegenteil, er ist immer wacher geworden und sensibler für das Elend seiner Zeit.
Mit 24 kommt er als Lehrer zurück in seine Heimatstadt Hamburg, mitten hinein in das epidemisch wachsende Elend der Arbeitervorstadt St. Georg. Er beklagt nicht die Defizite der Armen an Moral, Bildung und Religion aus einer distanzierten bürgerlich-kirchlichen Warte wie viele andere.
Wichern gründet das „Rauhe Haus“. Ohne Berührungsängste nimmt er 12 bedürftige Jugendliche zwischen 15 und 18 dort auf. Zusammen mit seiner Mutter schafft er für sie ein verlässliches fast familiäres Umfeld. Aus Vertrauen, Schul- und religiöser Bildung sollen freie christliche Persönlichkeiten reifen.
Wichern wollte mit diesem Engagement seinen Glauben bekennen. „Durch die Tat rettender Liebe“ wie er sich ausgedrückt hat. Der Glaube hat ihn davor gefeit zum „typischen“ Aufsteiger zu werden. Mit den Augen solchen Glaubens betrachtet werden soziale und kulturelle Milieugrenzen nebensächlich und damit auch durchlässig. Für den Glauben sind alle Menschen gleich: Gottes Geschöpfe und liebesbedürftig.

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