SWR3 Gedanken

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01OKT2020
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Eine vom Schmerz überwältigte Frau hält den Leichnam ihres Sohns zwischen den Knien. „Mutter mit totem Sohn“ ist eines der bekanntesten Werke der Bildhauerin Käthe Kollwitz. Vor der Kopie habe ich vorletztes Jahr in der Neuen Wache mitten in Berlin gestanden. Kollwitz hat damit ein universales Bild für das Leiden geschaffen und zugleich ihre eigene Tragödie verarbeitet. Ihr Sohn Peter starb 1914 im Krieg in Flandern.

An ihr Kunstwerk musste ich sofort denken, als ich die Worte gelesen habe, die Serpil Temiz Unvar bei einer Gedenkfeier letzten Monat gesagt hat. Im Februar hat sie ihren Sohn verloren. Als ein vom Hass zerfressener Rassist ihn und acht andere Menschen in einer Bar in Hanau ermordet hat. Ferhat Unvar ist 22 Jahre alt geworden.  Ich erinnere mich, dass sein Bild nach dem Mordanschlag in fast allen Zeitungen zu sehen war. Ein freundlich blickender junger Mann in einem pinkfarbenen T-Shirt. Für kurze Zeit wurde er damals so etwas wie das stellvertretende Gesicht der Opfer von Hanau. „Ich hätte ihm noch so vieles sagen müssen“, sagte seine Mutter nun. „Wir dachten ja immer, wir haben noch so viel Zeit“. 

Ungesagtes lässt sich nicht nachholen. Jedenfalls nicht in diesem Leben. Umso wichtiger, dem Leid und dem Schmerz darüber eine Sprache zu geben. Ihn so teilen zu können mit anderen. Denn diese Sprache des Leidens ist universell. Jeder mitfühlende Mensch kann sie wahrnehmen, ganz gleich in welcher Form sie mich erreicht. Im Kunstwerk von Käthe Kollwitz ebenso wie auch jetzt in den Worten von Serpil Temiz Unvar.

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