SWR2 Wort zum Tag

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26SEP2020
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Was verhindert, dass Menschen zu Nazis oder zu ihren Opfern werden? Diese Frage trieb Ruth Cohn in ihrem Leben und Arbeiten um. Als Antwort darauf entwickelte sie eine Methode, um Gruppen zu leiten, die Themenzentrierte Interaktion.

Im Hintergrund standen Erfahrungen, die Ruth Cohn als deutsche Jüdin machen musste. Geboren 1912 in Berlin, verließ sie 1933 ihre Heimat. Sie ging in die Schweiz und später in die USA. Cohn hat sich zeitlebens kritisch mit den Voraussetzungen von Nationalsozialismus und Totalitarismus auseinandergesetzt.

Als Psychoanalytikerin hatte sie dabei zuerst vor allem den einzelnen Menschen im Blick. Mit den Jahren wurde ihr dann die analytische „Couch zu eng“, so hat sie es einmal formuliert.

Cohn träumte von einer therapeutischen Pädagogik. Sie wollte Menschen stark machen – seien es Kinder oder ihre Eltern, seien es Mitarbeiter in Firmen oder ihre Chefs. Eine humanere Gesellschaft – um nicht mehr und nicht weniger ging es ihr. Von verschiedenen therapeutischen Richtungen beeinflusst, entwickelte sie die Themenzentrierte Interaktion.

Ein zentraler Gedanke der sogenannten TZI ist, dass jede oder jeder einzelne sich selbst gut leitet und vertritt. Dazu will sie Menschen befähigen, in der Überzeugung, dass davon die gesamte Gruppe profitiert. Chairperson-Postulat wird der Gedanke genannt. Jede einzelne ist so etwas wie ihre eigene Vorsitzende, die sich selbstbestimmt, selbstverantwortlich und selbstbewusst in einer Gruppe bewegt.

Im Blick auf unsere gesellschaftliche Situation frage ich mich allerdings, ob sich einzelne nicht gerade zu sehr selbst vertreten, und zwar nur sich selbst. Den Eindruck gewinne ich, wenn ich Bilder von den Anti-Corona-Demos sehe, bei denen viele nur ihre eigene, sehr spezielle Weltsicht gelten lassen.

Die TZI weist in eine andere Richtung: „Schau nach innen, schau nach außen und entscheide dann!“ heißt es dort. Zum Blick nach außen gehört für Cohn der tiefe Respekt vor allem Leben und der verantwortungsbewusste Bezug zu den Mitmenschen und zur Umwelt. Wenn ich ernstnehme, was ich außerhalb meiner selbst sehe, dann muss ich auch die Geschichte unseres Landes mitdenken. Ich kann in Deutschland nicht ausgerechnet für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einstehen, und mich gleichzeitig neben Nazis stellen, am besten noch vor dem Reichstag.

Schau nach innen, schau nach außen und entscheide dann. Wem das als Satz von Ruth Cohn zu psychologisch klingt, dem hilft vielleicht ein viel bekannterer Satz: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31731
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