SWR4 Abendgedanken

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17SEP2020
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Mein Sohn macht Kunststücke mit dem Fahrrad. Er hat diesen Sommer seine Leidenschaft dafür entdeckt. Und viel Zeit in sogenannten Bikeparks verbracht. Das sind große Plätze mit Erdhügeln und Schanzen, auf denen sich Jugendliche treffen, um mit speziellen Rädern kunstvolle Sprünge in die Luft zu zaubern. Diese Art Sport wird „Freestyle“ genannt. Das bedeutet: jeder findet seinen Stil und setzt verschiedene Elemente zu einer eigenen Kreation zusammen. Bis das sitzt, ist ziemlich viel Übung angesagt. Genau so sieht ein Leben mit Gott im 21. Jahrhundert aus: eigensinnig und individuell - und mit der Bereitschaft, dran zu bleiben. Das jedenfalls sagt der evangelische Pfarrer von St. Gallen. Uwe Habenicht hat analysiert wie unsere Gesellschaft tickt, was sie braucht und welche Rolle Kirche dabei spielen sollte. Sein Buch zum Thema hat er „Freestyle Religion“ genannt. Seine Idee von Kirche kommt ohne die üblichen Forderungen nach Reformen und Strukturveränderungen aus. Seine Erkenntnisse sind für mich ebenso überraschend wie klar:

Erstens: Jeder muss seinen eigenen Zugang zum Glauben finden.
Lebensentwürfe und Lebenswege sind sehr individuell. Ein Angebot für alle passt da für immer weniger Menschen.

Zweitens: Kirche muss zur individuellen Lebensbegleiterin werden.
Die Aufgabe ist, den Einzelnen zu unterstützen, damit er gute Entscheidungen treffen kann.

Drittens: Glaube braucht die Gemeinschaft.
Erst dann trägt er tatsächlich. Das muss nicht zwingend die Kirchengemeinde vor Ort sein. Auch ein geistlicher Ort wie etwa ein Kloster, kann die richtige Adresse sein. Oder eine Gruppe oder eine Bildungseinrichtung.

Und viertens: Jeder braucht Religion!
Weil wir uns einen Lebensstil angewöhnt haben, der uns nicht fröhlich und glücklich macht, sondern der uns erschöpft. Und die Aufgabe von Religion ist uns zu helfen, Dinge wieder ins Lot zu bringen.

Was sich hier vielleicht noch ein wenig theoretisch anhört, ist in Bremerhaven schon Praxis. Dort versuchen zwei junge Pastoren in diesem Freestyle-Sinn Kirche neu zu denken. Die beiden sind mit ihrem Skateboard in der Gemeinde unterwegs und kommen so ganz schnell ins Gespräch mit jungen Leuten. Über Tattoos und Haarfärbemittel. Sie haben ihre Pfarrstellen bewusst in einem Stadtteil gesucht, der als sozialer Brennunkt gilt. Und die beiden sind nicht nur in der Kirche ansprechbar, sondern beim Einkaufen und am Dönerstand. Dass in Corona-Zeiten die Plätze in ihrer Kirche nicht ausreichen lässt ahnen, dass sie einiges richtig machen. Wenn ich von solchen Experimentier-Kirchen höre, dann freut mich das und macht mir Hoffnung.

Wo der Glaube lebendig ist, da darf man ausprobieren und hinfallen, von anderen lernen. Und immer wieder neu einüben. Genau so wie in einem Bikepark.

Uwe Habenicht, Freestyle Religion, Echter Verlag: https://www.echter.de/freestyle-religion-2111/

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31634
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