Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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07SEP2020
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Er war ein Kind Gottes. Gut, als Theologe behaupte ich, dass jeder von uns ein Kind Gottes ist. Er aber hat mir gezeigt, was das heißt, ein Kind Gottes zu sein. Denn nach menschlichem Ermessen konnte er nichts. Er konnte nicht gehen, er konnte nicht stehen, noch nicht einmal sitzen. Ohne seine speziell angefertigte Sitzschale wäre er von jedem Stuhl gefallen. Er konnte nicht reden, nicht einmal mit Nicken oder Kopfschütteln ja oder nein sagen. Er konnte auch seinen Harndrang und seinen Stuhlgang nicht kontrollieren. Er war ein Vollpflegefall. Sein ganzes Leben lang. 38 Jahre musste er gefüttert, gewickelt, ins Bett gebracht, aufgeholt, getragen oder im Rollstuhl geschoben werden. Ein ganzes Heer von Menschen war damit beschäftigt. Zuerst die Eltern, die Familie und Freunde, später dann Pfleger, Erzieherinnen und Therapeuten.

Das einzige was er konnte war Lachen und Weinen. Aber das konnte er. Sein Lachen und auch sein Weinen konnte Menschen verändern. Wenn Streit im Raum lag, gingen seine Mundwinkel im Zeitlupentempo nach unten und er fing an zu weinen. Alle merkten dann, das was nicht stimmte. Wenn ein Missgeschick passierte, konnte er voller Schadenfreude lachen und alle lachten dann mit. Wenn er Menschen an ihrer Stimme oder am Schritt erkannte, war sein Lachen, seine Freude übergroß und er steckte alle damit an. Mit Lachen und Weinen die Menschen verändern. Dicke Luft im Raum zu frischer Luft verwandeln, das konnte er. Nach menschlichem Ermessen ist das vielleicht nicht viel, aber um ein Kind Gottes zu sein – vollkommen ausreichend. Denn Gott misst anders – Gott sei Dank!

Wir, die wir ihn kannten, sind immer noch sehr traurig, dass er gestorben ist. Aber immer mehr mischt sich in die Trauer die Dankbarkeit, dass wir ihn bei uns hatten – 38 Jahre lang.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31625
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