SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

11SEP2020
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Mir fallen Abschiede schwer. Jetzt, wo wir umgezogen sind und alles hinter uns liegt, kann ich das ja einmal sagen. Es fällt mir schwer, von den Menschen loszulassen, die ich über die Jahre liebgewonnen habe und in mein Herz geschlossen habe. Bei manchen Menschen merke ich das erst jetzt. Zumal, wenn die erste Begegnung mit ihnen keine Liebe auf den ersten Blick gewesen ist. Aber gerade solche Begegnungen haben mein Leben reich gemacht.

Meine Erfahrung ist, dass das Miteinander von Menschen manchmal Zeit braucht. Zeit, um sich aufeinander einzulassen, sich kennenzulernen. Zeit, in der man irgendwie zusammenwächst und sich vielleicht dann auch traut, sich den anderen zu öffnen und das Leben zu teilen. Irgendwann weiß man wie der andere tickt. Man respektiert sich gegenseitig in seiner Unterschiedlichkeit und kann miteinander umgehen. Mehr noch, man entdeckt den Schatz, den Gott in einem anderen Menschen verborgen hat.

Da gab es zum Beispiel die Frau, die, wenn man ihr auf der Straße begegnete, immer mürrisch geguckt hat. Freiwillig mochte man mit ihr auf den ersten Blick nicht viel zu tun haben. Dann aber hat sich durch Zufall eine Begegnung ergeben. Irgendein Geburtstag bei irgendeiner gemeinsamen Bekannten. Die mir etwas fremde Frau hat dort auf dem Sofa gesessen und auf ansteckende Weise gelacht. Wir sind dann ins Gespräch gekommen und sie hat ein wenig von sich erzählt. Ich habe gestaunt, wie viel ihr das Leben zugetragen hat: Eine schwere Kindheit, ein Mann, der zum Alkoholiker wurde und ihr und den Kindern das Leben schwer gemacht hat. Irgendwann gab es dann aber eine Wendung und nun geht es ihr im Großen und Ganzen ganz gut. Die Frau war voller Lebenserfahrung und –weisheit. Seit dieser Begegnung sind wir in einem losen Kontakt geblieben. Wenn wir uns auf der Straße gesehen haben, sind wir stehen geblieben und haben uns unterhalten. Ab und an haben wir auch zusammen eine Tasse Kaffee getrunken. Jetzt, wo wir uns nicht mehr so schnell wiedersehen werden, fehlt sie mir sogar ein wenig. Wer hätte das am Anfang gedacht. „Alles hat seine Zeit!“ heißt es in der Bibel. Und darum bin ich für die Zeit, die wir gemeinsam hatten, sehr dankbar.

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