SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

02SEP2020
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Sich blind verstehen – das tun Freund*innen, wenn sie kaum Worte oder Blicke brauchen, um zu wissen, was der oder die Andere gerade denkt. So geht es mir mit meiner Freundin Steffi. Wir kennen uns nun schon seit fast dreißig Jahren. Bei ihr habe ich das Gefühl, ich muss mich nicht groß erklären. Wir kennen ganz genau die Stärken und vor allem Schwächen der jeweils Anderen; ich kann mit ihr über alles sprechen, aber genauso gut auch mit ihr gemeinsam schweigen.

Weil wir seit der Kindheit nicht mehr in derselben Stadt wohnen, nehmen wir uns jedes Jahr ein Wochenende nur für uns. Und dieses Jahr ging es in die Berge. Schon morgens um sechs starten wir eine Tour auf einen Berg hoch. Nach ein paar Stunden Wanderung merken wir, dass die Tour uns  ganz schön überfordert. Die Wege sind teilweise steil und steinig, manche Passagen müssen wir sogar klettern. Steffi hat Höhenangst, deshalb weiß ich, wie sehr sie sich überwinden muss, um weiter nach oben zu wandern. Ich mache mir Sorgen, aber sie möchte nicht umdrehen. Die letzten Höhenmeter zur Spitze merke ich dann, völlig unerwartet, dass auch ich es mit der Angst zu tun bekomme. Vielleicht ist es die Anstrengung, vielleicht aber auch die Höhe. Ich lehne mich dicht an die Felswand, gucke an den Steinen herunter und sage zu Steffi: „Hey, ich glaub, ich hab echt Angst.“ Sie schaut mich völlig entgeistert an. Ich nicke ihr ängstlich zu und gebe ihr damit zu verstehen, dass ich es jetzt wirklich ernst meine. Wider Erwarten schaut sie mir streng ins Gesicht und sagt „Wir schaffen das!“ Sie lächelt mir zu und klettert voraus, ich ihr nur noch hinterher. Ich gucke nicht mehr nach links und rechts, nur noch nach vorne zu Steffi und weiß, dass ich ihr voll vertrauen kann.

Auch noch Wochen später beeindruckt mich Steffis Reaktion: Sie stellt ihre eigene Höhenangst in den Hintergrund, um für mich da zu sein. Sie sieht und hört, dass ich ängstlich bin, obwohl sie sich selbst so sehr überwinden muss. Und sie kennt mich so gut, dass sie genau weiß, was ich jetzt brauche. Ich bin dankbar, eine Freundin zu haben, die so sensibel und mutig zugleich ist. Und ich bin dankbar, dass ich eine Freundin habe, bei der ich mich schwach und ängstlich zeigen darf.

Auf der Bergspitze angekommen frage ich sie, was denn da grad mit uns passiert ist. Sie lächelt mich an und sagt: „Wir sind echt ein gutes Team!“

Dieses Erlebnis hat mir eine neue, mutige Seite an meiner Freundin gezeigt und eine alte Seite unserer Freundschaft bestätigt: Dass wir uns nicht nur blind verstehen, sondern ich ihr auch blind vertrauen kann!

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