SWR2 Wort zum Tag

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09SEP2020
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Der barmherzige Samariter – eines der bekanntesten Gleichnisse der Bibel, sprichwörtlich ist seine Hauptfigur geworden. Das Gleichnis hat eine Kultur des Helfens angestoßen, obwohl die Angelegenheit ja nicht angenehm war. Der Überfallene am Wegesrand hätte sich sicherlich lieber jemand anderen als Retter gewünscht als das Mitglied einer verhassten Volksgruppe. Und auch der Samaritaner hätte sein gutes Geld, seine Zeit und seine Nerven bestimmt lieber für jemanden aufgewandt, der nicht zu dem Volk gehört, das auf ihn und die Seinen herabblickte. Dass mir ausgerechnet jemand zum Nächsten werden kann, den ich zutiefst nicht ausstehen kann, der mir vielleicht sogar widerlich ist, den ich verachte und umgekehrt ich zum Nächsten werde für jemanden, den ich nicht mag, einfach deshalb, weil ich ihn brauche - das ist nicht einfach, nicht billig zu haben. Trotzdem funktioniert die Angelegenheit seit Jahrhunderten.

In einem Altersheim, in dem ich vor der Coronazeiten häufig zu Besuch war, gibt es einen Mann, der wirklich nicht sehr sympathisch ist. Er schimpft die ganze Zeit, er sieht struppig aus, er raucht Kette und ist unhöflich. Die Mitbewohner können ihn nicht leiden. Trotzdem habe ich nie eine Schwester oder einen Pfleger erlebt, der unhöflich oder grob mit diesem Mann umgegangen wäre. Sie bleiben ruhig, auch wenn er schimpft, sie reichen ihm das Essen an und leeren die Aschenbecher, die er auf dem Balkon hinterlässt, sie waschen ihn und behandeln ihn genauso sorgfältig wie die Bewohnerinnen und Bewohner, die freundlich und zuvorkommend sind. Ich finde, diese Pflegerinnen und Pfleger sind die barmherzigen Samariter von heute. Sie haben meine große Hochachtung.

Viele Bewohner in diesem Heim haben Demenz und verlieren ihr Erinnerungsvermögen. Bei manchen scheint mir: Die Freundlichkeit, die ihnen ihr Leben lang zu eigen war, die haben sie nicht verloren. Gleiches gilt wohl leider auch für Unfreundlichkeit. Wer weiß, wie das bei mir einmal wird? Ich bin von Natur aus nicht unbedingt sanftmütig. Gute Argumente leuchten mir ein. Aber wer weiß, ob ich im Alter starrsinnig werde und vielleicht einst genauso anstrengend werde wie dieser alte Mann im Heim. Aber ich würde mir doch wünschen, dass es im Falle meiner Demenz Menschen gibt, die mit mir freundlich sind. Und barmherzig. Trotz allem.

So geh hin und tu desgleichen, heißt es scheinbar einfach als Schlusswort im Gleichnis. Wenn das so einfach wäre. Gott schenke uns allen barmherzige Menschen und den Mut und die Kraft, Barmherzigkeit zu wagen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31560
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