SWR2 Wort zum Tag

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07SEP2020
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Meine Großmutter hat viel und gerne erzählt. Vielleicht lag das auch daran, dass sie eine Zeitlang in ihrem Leben verstummt war, vor Kummer. Nach dem Tod meines Großvaters hatte sie die Sprache verloren. Sie hatte ihn sehr geliebt. Erst als wir Enkelinnen auf die Welt kamen, fing sie wieder an zu reden. Möglicherweise war sie der Ansicht, dass es sich nun wieder lohnen könnte, zu sprechen, und sie holte die verlorene Zeit nach. So profitierten meine Schwester und ich von vielen Geschichten, denen wir gerne zugehört haben. Denn meine Großmutter konnte sehr spannend erzählen. Leider finden nicht alle Großeltern offene Ohren für ihre Lebensgeschichten. Manchmal sind Pfarrerinnen und Pfarrer die einzigen, die ihnen zuhören. Eigentlich schade. Denn Lebensgeschichten wollen geteilt werden. Mir scheint, durch Erzählen kann man sogar einen Frieden finden, mit sich und der eigenen Geschichte. Ich möchte alten Menschen Mut machen, ihre Geschichten zu erzählen – und ihren Kindern und Enkeln, ihnen zuzuhören! Natürlich wäre es auch nicht schlecht, wenn die Erzählerinnen und Erzähler dabei eine gute Prise Spannung als Würze einstreuen und sich Mühe geben, nicht allzu langatmig zu sein. Und nicht allzu belehrend. Dann haben auch die Zuhörer Freude daran.

Es kommt ja nicht darauf an, alle Ratschläge zu beherzigen oder sofort umzusetzen. Das dürfen die Erzählenden auch nicht erwarten, sonst läuft das Ganze schief. Es kommt darauf an, dass Menschen ihre Erinnerungen und ihre Lebensweisheiten erzählen dürfen und man ihnen Zeit schenkt und zuhört und dann überlegt, was es für das eigene Leben bedeutet. Ich glaube zum Beispiel, es hat Deutschland nicht gutgetan, dass man lange Zeit vor den Erinnerungen der Kriegszeit die Ohren verschlossen hat. Viele Menschen sind dadurch seelisch krank geworden und blieben traumatisiert. Meine Großmutter hat sehr offen erzählt, von dem Schrecken, den sie erlebt hat, aber auch davon, dass sie einfach keinen Mut hatte, sich für jüdische Mitbürger einzusetzen. Sie hat erzählt, wie viel Angst sie damals hatte. Das war sehr ehrlich, und es hat uns geholfen, vieles zu verstehen. Auch meiner Großmutter hat das gut getan.

Ein Theologe hat einmal gesagt, dass sich mit jeder geteilten Lebensgeschichte drei Lebensgeschichten verknüpfen: Diejenige der Erzählerin, die des Zuhörers und die Lebensgeschichte Gottes selbst. Eine dreifache Schnur. Mir gefällt dieser Gedanke, und ich mag mir gerne vorstellen, dass sich Gott mit den Fäden der Geschichte meiner Großmutter verbunden hat. Und auch mit denen meiner Lebensgeschichte. Und wenn Sie sich das vorstellen mögen: Auch mit der Ihren.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31558
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