SWR2 Wort zum Tag

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26AUG2020
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"Über allen Gipfeln / Ist Ruh’ / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch." Zuletzt habe ich das Goethegedicht zufällig in einer Radiosendung gehört, als ich im Krankenhaus lag. Und im Krankenhausbett hört sich dieses Gedicht wirklich anders an als im Deutschunterricht.

Als Krankenhausseelsorgerin bin ich in der Klinik immer nur zu Besuch, ich kann kommen, aber auch wieder gehen, wann ich will. Nun lag ich da, verbunden mit dem Monitor und dem Infusionsständer. Angewiesen darauf, dass mir jemand die Bettpfanne bringt, die Wunde verbindet, Essen und Trinken ans Bett stellt. Und mich im Krankenhausbett durch die Gänge schiebt. Ruhe gab es da wenig. Dazu die Frösche im Teich vor dem Krankenhaus, die mir mit ihrem ohrenbetäubende Gequake schlaflose Nächte bereiteten. Und immer wieder: Aufklärung vor dem nächsten, ärztlichen Eingriff, mit der obligatorischen Unterschrift des Patienten. Vorsichtig wurde ich darauf hingewiesen, dass der nächste Eingriff schlimmstenfalls auch mit dem Dahinscheiden, dem Exitus, auf Deutsch dem Tod enden kann. Als Pfarrerin lebt man ja gewissermaßen mit dem Tod, wenn auch hauptsächlich mit dem der anderen. Und die jungen Ärzte taten mir fast ein wenig leid, wenn sie mir gegenüber dieses unangenehme Thema immer wieder ansprechen mussten.

Aber viel eleganter als die Ärzte hatte ja vorher schon das Goethegedicht die Patientenaufklärung vollzogen. "Über allen Gipfeln / Ist Ruh’ / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch."

Unterschreiben braucht man das nicht. Aber zustimmen muss wohl jeder. Mit großer Ruhe, mit großer Gelassenheit weist dieses Gedicht darauf hin, dass weder ich, noch der Arzt noch sonst wer ewig hier auf der Erde lebt. Dass wir alle, was unsere Sterblichkeit angeht, Patienten sind.

Das Gedicht von Goethe ist Patientenaufklärung und Seelsorge in einem: Es macht mich nicht glauben, ich lebte unendlich und zugleich versichert es mir, dass am Ende eine alles umfassende Ruhe steht. Das tat gut.  Aber schöner war es dann doch, nach einer Woche das Krankenhausbett wieder gegen das eigene zu tauschen und dem Vogelgezwitscher zuhören zu können.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31526
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