SWR3 Gedanken

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05AUG2020
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Ich habe jetzt eine „paradoxe Sanduhr“. So heißen Sanduhren, die rückwärts laufen, also von unten nach oben, wie wenn die Schwerkraft ausgehebelt wäre. Die beiden Gefäße sind mit einer Flüssigkeit gefüllt. Und aus dem unteren blubbern ganz feine Kügelchen nach oben an die Oberfläche. Mich fasziniert die Technik und das sieht cool aus. 

Aber ich habe sie eigentlich aus einem anderen Grund gekauft. Immer wenn ich besonders gehetzt bin, dann soll sie mich daran erinnern, dass Zeit nicht immer gnadenlos verstreichen muss. Dieses Bild von der Zeit hatte ich nämlich bisher. Meine Lebenszeit als Sanduhr. Manche stellen sich die Zeit auch als Pfeil vor, der bei der Geburt abgeschossen wird und unbeirrbar auf das Ziel zufliegt. Das hat mich oft frustriert. Ich habe mich ständig unter Druck gefühlt, ich könnte was verpassen oder die Zeit nicht gut genug nutzen. 

Jetzt hat mir ein Freund den Tipp gegeben, die Zeit anders zu betrachten: nicht als Linie, sondern als Spirale. Auf einer Spirale bewege ich mich auch vorwärts, aber nicht so schnell und nicht so aufs Ziel fixiert. Die Spirale erfasst das Leben besser als eine Linie, finde ich. Im Körper und in der Natur verläuft auch vieles in Kreisläufen: das Blut, der Atem, wach sein und schlafen, die Jahreszeiten, Ebbe und Flut, die Planeten, die um die Sonne kreisen. Warum sollte ich die Zeit dann anders betrachten? Zeit vergeht mal schneller, mal langsamer. Im Wartezimmer dehnt sie sich aus, wenn ich im Flow bin schrumpelt sie ein. Mal arbeite ich wie wild, mal darf ich mich erholen. Mal wünschte ich mir, sie würde fliegen, mal kann ich sie gar nicht genug auskosten. 

Zu wissen, dass alles seine Zeit hat, das nimmt mir den Stress. Mal rinnt die Zeit wie Sand durch die Finger, und dann geht’s auch wieder in die andere Richtung – ganz wie bei der paradoxen Sanduhr.

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