SWR3 Gedanken

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03AUG2020
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In der Kathedrale von Norwich war vor dem Hochaltar eine 16 Meter hohe Jahrmarktrutsche aufgebaut. Knallig in rot und weiß - ein bisschen wie ein Leuchtturm. Im Turm kann man eine Treppe hochsteigen, und dann führt eine Rutsche spiralförmig außen am Turm entlang nach unten - 46 Meter lang. Das ist ein ganz schön krasser Gegensatz: die ehrwürdige romanische Kathedrale und die knallbunte Jahrmarktrutsche. In zwei Wochen sind fast 10.000 Besucher gekommen. 

Die Riesenrutsche war Teil des Projektes „Sieh´s mal anders“. Ich finde, das ist ein gutes Motto - für eine Kirche, aber auch für mich selbst. Meistens tut so ein neuer, frischer Blick gut. 

Ich erinnere mich zum Beispiel an meine Studentenzeit. Als wir in unserer WG das Putzen organisiert haben, wollte niemand die Toilette übernehmen. Bis ich mich habe breitschlagen lassen. Ich hab´s aber nicht als Niederlage empfunden, sondern anders: Ich bin ab jetzt der Spezialist für einen kleinen herausfordernden Raum. „Sieh´s mal anders“ eben. 

Oder die Zeit, die ich mit meinen Kindern verbringe. Klar ist das anstrengend: alles so weit unten, und immer haben sie so viele Ideen, von denen nur die Hälfte machbar ist. Aber jetzt - „Sieh´s mal anders“. Ich habe mir klar gemacht, dass das nur eine ganz kurze Zeitspanne in meinem Leben ist, und seitdem versuche ich jede Minute auf den Knien zu genießen. 

Wenn ich mein Leben mal durch eine andere Brille anschaue, dann kann das sehr befreiend sein. Und damit wäre ich wieder bei der Riesenrutsche in der Kathedrale von Norwich. Bevor die Rutsche abgebaut wurde, gab es einen Abschlussgottesdienst, bei dem der Bischof den Turm als Kanzel benutzt hat. Und zum Ende seiner Predigt hat er - statt „Amen“ zu sagen - sich auf die Rutsche geschwungen und einen eleganten Abgang gemacht. Klarer Fall von „Sieh´s mal anders.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31422
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