SWR2 Wort zum Tag

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27JUL2020
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Zum ersten Mal bin ich ihr frühmorgens in meinem kleinen Garten begegnet – meiner neuen Mitbewohnerin. Sie sah irgendwie besonders aus und hat mich gleich fasziniert. Um zu wissen, mit wem ich es zu tun habe, habe ich ein Foto von ihr gemacht und dies an eine Freundin gemailt, die sich auskennt. Sie ist Biologin. „Eine schöne Mitbewohnerin hast Du da,“ bekam ich postwendend als Antwort. „Eine gefleckte Weinbergschnecke. Cornu Aspersum. Sehr nützlich. Sie mag alte Blätter und die Eier der Nacktschnecken. Übrigens: Sie kann 15 Jahre alt werden.“ Wir begegnen uns nun regelmäßig, allerdings nur morgens und abends, tagsüber schläft sie. Normalerweise würde ich um diese Zeit im Auto sitzen, jetzt bin ich im homeoffice. So konnte ich feststellen, dass meine Schnecke keineswegs alleine lebt. Eine ganze Familie war auf dem Rasen unterwegs.

Manchmal denke ich, dass meine Schnecke ein kleines Gottesgeschenk ist. In allen negativen Seiten von Corona gibt es doch auch diese kleinen Lichtblicke, die man entdecken kann. Mag sein, dass ich mir erst jetzt die Zeit nehme, über die kleinen Wunder des Lebens zu staunen. Staunen, das hat schon Aristoteles gelehrt, ist der Anfang des Philosophierens. Ich staune über meine Schnecke. Sie lehrt mich viel! Wenn ich sie beobachte, werde ich demütig. Wie sehr kreise ich um meine Bedürfnisse und halte meine Perspektive für das Maß der Dinge. Dieses kleine Wesen ist völlig unbeeindruckt von dem, was mich umtreibt. Sie ist ganz konzentriert bei ihren Schneckenaufgaben. Wie leicht lasse ich mich dagegen oft ablenken! Mit meiner Schnecke entdecke ich das Geheimnis der Entschleunigung, obgleich sie durchaus zügig in meinem Garten unterwegs ist. Sie gleitet mit einer Eleganz über Grashalme, die durchaus mit den Balletttänzern unseres Staatstheaters mithalten kann. Ganz nebenbei hält sie den Garten Nacktschneckenfrei und vergreift sich nicht mal an den frischgrünen Blättern der Anemone. Meine Schnecke regt mich zu einem Perspektivwechsel an. Rastlosigkeit und Angst haben nicht die Deutungshoheit über das Leben. Es tut einfach gut, sich ab und zu von der Hektik und Sorge des Alltags zu distanzieren.

Demnächst werde ich wieder analog arbeiten und morgens im Auto sitzen. Während ich über die Autobahn fahre, gleitet meine Schnecke durch meinen Garten. Wir haben beide unsere Aufgaben. Ich freue mich auf die analoge Begegnung mit den Vikarinnen und Vikaren, die ich ausbilde. Ich glaube, ich werde ihnen von meiner Schnecke erzählen.

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