SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

24JUL2020
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Ich liebe das Reisen. Ich genieße es, wenn ich in andere Länder komme. Wenn ich dort fremde Sprachen höre, den Lebensstil der Menschen in anderen Ländern und ihre Geschichte kennen lerne. Und da ich gerne ans Mittelmeer reise, gehören für mich natürlich auch das sommerliche Wetter, Palmen und gutes Essen zum Reisen dazu. All das war jetzt aber (lange Zeit) nicht möglich. Und ich habe gemerkt, das, was mir am Reisen fehlt, ist auch, dass ich da aus meinem Alltagsleben rauskomme. Das, was mich täglich fordert, rückt in den Hintergrund. Ich muss da eben nicht pünktlich und mit klarem Kopf einen Termin nach dem anderen abarbeiten. Auf Reisen kann ich meine Gedanken frei laufen lassen und es mir leisten, unpünktlich zu sein. Allein das tut schon gut.

Aktuell läuft der Reisebetrieb zwar langsam wieder an, aber für meinen Sommerurlaub ist es noch nicht klar, ob er so stattfindet wie ich es geplant habe.

Für den Fall, dass es nicht klappt, über ich in letzter Zeit deshalb abends oft kleine Gedankenreisen ein. Ich lege mir zum Beispiel Musik ein, die ich mit Venedig verbinde, schließe die Augen und gehe in der Phantasie durch die Gassen und über die Brücken dieser Stadt. Ich erinnere mich daran, wie es dort auf der Straße nach dem starken Chlorreiniger riecht, der sich mit dem Geruch aus der Küche der Pizzeria vermischt, an der ich vorbeigehe, und an das Gefühl, das die salzige Luft auf der Haut hinterlässt. Für ein paar Minuten tauche ich so abends ab in ein Urlaubsziel, das ich mir aussuche.

Die großen Mystiker des Christentums sprechen oft von einer Reise der Seele, die sie in ihrem Innersten unternehmen kann und die sie zu Gott führt. Ich glaube, dass meine kleinen Gedankenreisen nicht nur etwas von dem ersetzen, was mir das Reisen bedeutet, sondern dass sie auch der Anfang von so einer mystischen Erfahrung sind. Sie zeigen mir nämlich auf eine erholsame Art und Weise, was meine Seele gerade braucht. Zum Beispiel ein bisschen Abstand von den Sorgen des Alltags. Deshalb lasse ich meine kleinen Gedankenreisen manchmal ganz bewusst auch dorthin übergehen, wo es nicht mehr um ein Reiseziel geht. Sondern darum, was meine Seele gerade braucht und was mir jetzt gut tut. Allein schon, weil ich das tue, entwickelt sich dabei wie von selbst ein urlaubshaftes Grundvertrauen: Ich genieße es, dass die Welt vielseitig und bunt ist und mir viel Gutes zu bieten hat. Für mich funktioniert das, weil ich glaube, dass am Grunde meiner Seele Gott wohnt und dass er mich auf diesen Gedankenreisen begleitet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31317
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