SWR2 Wort zum Tag

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18JUL2020
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Ich staune über Menschen, die eine genaue Beobachtungsgabe haben. Die schon nach einer kurzen Begegnung präzise beschreiben können, wie jemand aussieht. Denen bei einem Spaziergang auch unscheinbare Blumen oder besondere Steine auffallen. Ich selbst bin dazu oft zu sehr in Gedanken oder in Eile.

Als Kind war das anders. „Davon braucht man kein Foto machen“, habe ich zur Verblüffung meiner Eltern wohl als kleines Kind einmal verkündet. „Das habe ich doch alles in meinem inneren Bilderbuch.“

Das „innere Bilderbuch“ – der Begriff ist in unserer Familie hängen geblieben. Und er gefällt mir bis heute. Ansichten, Ereignisse und Begegnungen so intensiv ansehen und aufnehmen zu können, dass man sie nachher im Kopf hat, das ist eine schöne Gabe. Denn so bleiben sie präsent - und man kann sie zu anderen Zeiten und in jeder Situation wieder aufleben lassen. Der Blick ins „innere Bilderbuch“ kann dann auch durch schwierige Zeiten helfen, in denen es wenig zu sehen gibt, in denen man wenig erlebt und wenige Kontakte hat.

In der Bibel ist der wache, aufmerksame Blick ein Zeichen für Lebendigkeit. Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode entschlafe, so bittet der Beter Gott in Psalm 13. Ich finde, das ist ein sprechendes Bild. Oft kann man es ja tatsächlich an den Augen sehen, ob jemand gerade wirklich am Leben teilnimmt, die Welt um sich herum intensiv wahr- und aufnimmt. Dann leuchten die Augen. Erleuchte meine Augen – das heißt auch: Mach mich innerlich lebendig, gib mir neue Lebensenergie.

Kostet eure Sinne aus, so appellierte auch die 1880 geborene Schriftstellerin Helen Keller, die in ihrer frühen Kindheit Augenlicht und Gehör verloren hat: „Ich, die ich blind bin, schrieb Helen Keller, kann den Sehenden nur dies eine ans Herz legen: Gebraucht eure Augen so, als ob ihr morgen erblinden müsstet. Nutzt all eure Sinne aus, soviel ihr könnt; freut, freut euch der tausendfältigen Schönheit der Welt, die sich euch durch eure Sinne offenbart. Von allen Sinnen aber, das glaube ich bestimmt, muss das Augenlicht das köstlichste sein.“ So Helen Keller.

Erleuchte meine Augen! So einen lebendigen und aufmerksamen Blick auf Menschen, Natur und Dinge wünsche ich mir auch. Die Muße, sie genau zu betrachten. Auf Kleinigkeiten zu achten – und mir die schönen, die berührenden oder überraschenden Bilder einzuprägen. Und so mein „inneres Bilderbuch“ wieder mehr zu füllen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31302
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