SWR3 Gedanken

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„Seit ich Enkel habe, weiss ich, wie der Mensch funktioniert.“
Die alte Dame erstaunte mich. Ihr ganzes Leben war sie Psychiaterin. Hat in einer Klinik schwer gestörte Menschen behandelt, hat geforscht über die Abgründe der menschlichen Seele und dann sagt sie so was: „Seit ich Enkel habe, weiss ich, wie der Mensch funktioniert.“ –„Und? Frage ich, wie funktioniert er?“ – „Ganz einfach, meint sie. Es geht immer ums Trösten.“
Krabbeln, Laufen lernen, die Welt entdecken, liebevoll mit anderen umgehen- das können wir alle ganz alleine. Das steckt in uns drin. Aber entwickeln kann sich das nur, wenn eins nicht fehlt: ganz viel Trost.
„Du bist hingefallen? Wart, ich helf dir hoch.“ - „Du warst böse, ja- aber ich hab trotzdem lieb.“ - „Du bist ernstlich krank? Hab keine Angst, ich bleib bei dir. Das ist Trost! Und nur so geht’s. Kann man sehen- bei Kindern.“ sagt die erfahrene Ärztin. „Und- bei uns Erwachsenen?“ frage ich.
„Tja, das bleibt im Prinzip dasselbe. Wir können vielleicht ein bisschen länger warten bis der Trost kommt. Ohne Trost gibt es viel, aber kein Wachstum, keine Reife, keine Veränderung.“
Vielleicht gehört das Wort „Trösten“ deshalb in der Bibel zu den häufigsten Wörtern.
„Tröstet, tröstet mein Volk!“ sagt Gott zu seinen Leuten und als das Volk Israel sich nach einer völligen Katastrophe wieder hochrappeln musste, verspricht ihm Gott:
„Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“
Eine Kultur des Trostes- nicht nur fürs intime Zusammensein, nicht nur für Kleinkinder. Auch unter uns so erwachsenen gestandenen Leuten.
„Du hast dir eine Chance vermasselt? Ich geb dir noch eine.
Du hast den Job nicht bekommen? Du gehörst trotzdem dazu, wir suchen mit dir was Anderes.“-
„Seit ich Enkel habe, weiss ich, wie der Mensch funktioniert, sagt die alte Ärztin: Es geht immer ums Trösten.“
Recht hat sie. Ach ja, haben Sie heute schon getröstet?

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