SWR2 Wort zum Tag

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06JUL2020
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Den Menschen mit einem Bleistift zu vergleichen - das wäre mir nie und nimmer eingefallen. Aber der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho hat es getan, und dabei sind ihm einige überraschende Dinge aufgefallen. 

Mit dem Bleistift kann ich zeichnen, schreiben oder auch krakeln. In jedem Fall hinterlässt er eine Spur. Auch jeder Mensch hinterlässt eine Spur in seinem Leben. Das muss kein großartiges Lebenswerk sein. Alles was ich sage, wie ich bin oder was ich tue hinterlässt etwas. Worte können gut tun oder verletzen. Meine Art kann Menschen gut tun oder irritieren. Das, was ich tue nützt anderen oder auch mir selbst.  In jedem Fall aber hinterlasse ich zumindest einen Eindruck. Es ist gut, sich das immer mal wieder vor Augen zu führen: Es bleibt eine Spur von mir. 

Besonders gut gefällt mir am Bleistift, dass es nicht auf sein Äußeres ankommt, auf die Form, das Holz oder die Farbe, ob er kurz ist oder lang, oder ob das Ende völlig zerkaut ist. Wichtig ist die Mine, das Innerste. Schöne Menschen sind was Tolles, und ich schaue sie gerne an. Aber auch bei Menschen kommt es doch viel mehr darauf an, was in ihnen steckt. Welche Talente sie haben, wie sie ticken und fühlen, über was sie lachen oder weinen. 

Ich glaube, es ist gut zu wissen, was in mir vorgeht und wie ich für mein Inneres sorgen kann. Beim Bleistift ist das einfach. Ich muss ihn nur anspitzen, schon schreibt er wieder. Obwohl er bei jedem Spitzen auch etwas kürzer wird. Er verliert zwar etwas von sich, aber dafür schreibt er wieder. Das ist beim Menschen ähnlich. Man reift meistens an unangenehmen Erfahrungen, oder dann, wenn man etwas von sich selbst gibt. Wenn man in einer Krise steckt mag man das nicht gerne hören, es klingt zu sehr nach billigem Trost. Aber Menschen erzählen es mir immer wieder, und ich habe es selbst auch schon erlebt: Viele gehen aus Krisen gestärkt oder wenn man so will „gespitzt“ hervor. 

Und dann ist da noch etwas, was Menschen und Bleistifte verbindet. Ein Bleistift schreibt nicht von alleine, er braucht eine Hand, die ihn führt. Und das wünsche ich mir auch für mich: eine Hand, die mich schützt, die mich hält, und die mich ab und zu auch führt.

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