Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Guten Morgen!
Einmal aus der Rolle fallen – ist das nicht eine wunderbare Vorstellung?
Dem anstrengenden Kunden einfach sagen: „Wissen Sie was? Gehen Sie doch einfach woanders hin.“ Oder als Pfarrerin hätte ich schon mal gern gesagt: „Leute, meinen nächsten Gottesdienst halte ich nur, wenn da mindestens fünfzig Gemeindeglieder sitzen!“
Ich wette, jeder hat da so seine. Aber die schönste Geschichte, die ich dazu kenne, ist eine Geschichte von Jella Lepmann:
David, ein durch und durch gutherziges Kind, soll bei der Aufführung der Weihnachtsgeschichte den bösen Herbergsvater spielen. - Der Lehrer hat die Rollenverteilung so bestimmt.
David ist todunglücklich. Er soll Maria und Joseph fortjagen?
„Alles ist überfüllt“, soll er sagen, „und für Leute wie euch gibt es sowieso keinen Platz in meiner Herberge. Macht, dass ihr weiterkommt!“
David graut bei der Vorstellung. Schon beim Üben fällt auf, wie schlecht er seine Rolle beherrscht. Aber er kann sich nicht erklären, dafür fehlen ihm die Worte.
Als der Abend der Aufführung kommt, geht es David richtig dreckig. Zitternd steht er hinter der geschlossenen Tür. Dann kommt sein Auftritt: „Poch, poch“ macht es und Maria und Joseph flehen um ein Zimmer: „Lasst uns ein. Ich bin der Zimmermann Joseph, und mit mir ist Maria, meine Frau, die ein Kindlein haben soll. Um Gottes Willen, lasst uns ein!“
Da kann David nicht mehr anders. Er reißt die Tür der Herberge weit auf und ruft: „Kommt herein, o kommt herein. Wie könnte es für euch in meiner Herberge keinen Platz geben?“
In dem großen Saal wurde es ganz, ganz still. Es war die Stille der Heiligen Nacht und sie hielt lange an.
„Wie schön!“ werden die Leute gedacht oder gefühlt haben. „Wie schön.“
David hat auf die Stimme seines Herzens gehört. Er konnte die böse Rolle nicht ausfüllen.
Er steht da wie benommen, aber er fürchtet sich vor keinem Tadel und keiner Strafe. Er weiß ganz tief in sich drin: Ich habe das Richtige getan. Und alle anderen spüren es auch.
Ich glaube, so befreiend kann es sein, wenn wir mal aus der Rolle fallen. Dann brennt ein Feuer in uns, hell wie Weihnachten.
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