Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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03JUL2020
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Mein Blick auf fremde Menschen hat sich spürbar verändert. Vor einem halben Jahr noch ist es mir ziemlich egal gewesen, wer da mit mir im Zug oder Bus sitzt und wie. Auch an der Supermarktkasse habe ich mich kaum umgeschaut. Doch jetzt ertappe ich mich ständig dabei, dass ich jeden Fahrgast kritisch beäuge. Hält der sich an die Abstandsregeln? Hat die ihre Maske auch richtig im Gesicht? Und auch im Laden taxiere ich den Abstand am Regal oder an der Kasse und reagiere genervt, wenn mir einer zu nah kommt. Weil eben jeder, der mir begegnet, eine Gefahr sein kann. Immer noch. Die Seuche ist ja nicht vorbei.

Doch wenn ich ganz ehrlich mit mir selber bin, dann ist es nicht nur meine Sorge vor einer Infektion. Ich ärgere mich auch darüber, dass immer mehr Menschen um mich herum das alles scheinbar nicht mehr so eng sehen. Da hängt dann die Maske irgendwo, nur nicht da, wo sie hingehört. Da wird auch umarmt und geherzt und von Abstand halten ist oft keine Rede mehr, während ich mein Leben freiwillig einschränke und versuche, mich an Regeln zu halten. Doch Hand aufs Herz, so ein klein bisschen beneide ich die Leute schon, weil ich ja auch gern wieder so leben möchte als wäre nichts gewesen. Und wer will am Ende schon der Depp sein, der diszipliniert ist und brav verzichtet, während um ihn herum das Leben tobt. Auch das ist wohl insgeheim ein Teil meines Ärgers.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ heißt aber auch ein Kernsatz meines Glaubens. Er ist mir wichtig. Und auf die zweite Hälfte des Satzes kommt es an: Wie dich selbst. Denn wenn ich selber gesund und fit bleiben und nicht krank werden möchte, dann muss mir das einfach auch bei jedem anderen wichtig sein. Und darum werde ich mich auch weiter an die Regeln halten. Auch wenn es inzwischen immer öfter Überwindung kostet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31199
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