SWR2 Wort zum Tag

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Das Leben besteht aus vielen halben Sachen
Manche Menschen leben nach der Devise: Alles oder nichts. Das ist ein tückischer Satz, in der Fastenzeit und auch sonst. Natürlich kann er anspornen, Kräfte freisetzen, aber er macht auch sehr leicht rücksichtslos gegenüber mir oder andern. Also ein Plädoyer für die kleinen Brötchen, die Kompromisse, das Sich-Arrangieren?
Natürlich sind Kompromisse wichtig, und ein Gespür für das Mögliche ist auch wichtig. Aber es geht um mehr. Es geht darum, wie ich mich selber verstehe, allmächtig oder ohnmächtig, oder ausgestattet mit begrenzter Kraft. Ich kann nur entweder siegen oder aufgeben; oder gibt es auch die Möglichkeit, dranzubleiben, weil ich jetzt gerade etwas Sinnvolles tun kann?
Für mich ist ein klassisches Beispiel die ärztliche Kunst. Ärzte erreichen viel – und verlieren doch immer. Sie verlieren jeden Patienten irgendwann an den Tod und trotzdem arbeiten sie. Sie retten Leben für eine Zeit, heilen auf Zeit, lindern Leiden.
Ein anderes Beispiel ist das Trösten. Kinder trösten, Erwachsene trösten, auch wenn ich weiß, der nächste Kummer kommt bestimmt.
Alles oder nichts – mancher diktiert sich dieses Prinzip und ist nicht glücklich dabei. Dauernd muss man berechnen ob sich der Einsatz lohnt, darf nicht spontan sein, nichts versuchen, ja keine halben Sachen machen. Und dabei besteht das Leben doch aus so vielen halben Sachen, die wir trotzdem nicht missen können: wie z.B. einem verheulten Kind die Nase putzen.
Wer die eigene Charakterstärke an dem Satz misst „Alles oder nichts“ hat dafür keine Zeit.
Aber liegt nicht Stärke eher darin, mit den Bruchstücken zu bauen und die Spannung des Lebens zu akzeptieren mit Freude und Leid, Leben und Tod, mit Gesundheit und Krankheit, mit frei sein und gebunden sein? Wird das Leben so nicht viel humaner als wenn man sich zum Ziel setzt, das Negative auszumerzen? Zumal ja dann auch immer wieder die Frage aufkommt: Was ist negativ? Und vor allem: Wer entscheidet darüber? Und was ist mit denen, die dem „Alles“ geopfert werden?
Sich verabschieden von der Devise „Alles oder nichts“ kann auch ein Akt des Glaubens sein. Darin kann sich zeigen, ob ich an einen Gott glaube, der auf meine begrenzte Kraft zählt und dem ich vertrauen kann, wenn es gilt, die Bruchstücke zusammenzufügen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3116
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