SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

25JUN2020
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In Krisenzeiten werden die Geschichten menschlicher Hoffnung neu geschrieben. Diese Ahnung hat einen evangelischen Pfarrer aus St. Gallen in der Schweiz umgetrieben, als das Corona-Virus zu einer Pandemie geworden ist. Und deshalb hat er mitten in der Krise ein ganz besonderes Projekt ins Leben gerufen. Er hatte die Idee, die Bibel abzuschreiben. Nicht alleine. Er hat übers Internet mehr als 1.000 Schreiberinnen und Schreiber gesucht. Genau so viele, wie es Kapitel im Alten und Neuen Testament gibt. Jeder sollte ein Kapitel auswählen, Zeichnungen hinzufügen oder einen Kommentar unter der Textstelle hinterlassen; erzählen, wie sie oder er die Bibelstelle in dieser Zeit erlebt. Am Ende wird daraus eine neue Bibel-Ausgabe gebunden, die Corona-Bibel.

Innerhalb von nur wenigen Wochen waren alle Kapitel vergeben, das Interesse war riesig. Wahrscheinlich so groß wie die Sehnsucht der Menschen, Teil einer neuen Hoffnungsgeschichte zu sein. Auch mich hat das Projekt fasziniert und ich habe daran mitgeschrieben. Jesaja 22, das war mein Kapitel, willkürlich gewählt. Nachdem ich den Text zum ersten Mal gelesen hatte, war ich wenig begeistert. Durch den Propheten Jesaja hat Gott über die heidnischen Völker sein Urteil gesprochen. Und das war kein gutes. Der Text ist düster. Es gibt kaum positive Worte, nur: Schmerz, Schuld, Zerbrechen, Weinen und Klagen. Kurzum: Dieses Bibel-Kapitel hat nichts von einer Hoffnungsgeschichte, es bleibt ohne happy end. Aber die Lektüre hat mich ermuntert weiterzublättern, davor und danach. Ich wollte schauen, wie es zur Katastrophe gekommen ist und wie es bei Jesaja weitergeht. 
Dieses Schreib-Projekt hat mich wieder mit der Bibel in Verbindung gebracht; mit unbekannten Texten und vergangenen Zeiten. Was mich an der Bibel fasziniert ist, dass sie die Erfahrungen unserer Vorfahren mit Gott festgehalten hat. Und sie damit für uns lebendig geblieben sind. Das gibt mir einen Rahmen; ich glaube nicht allein. Ich bin eingebunden in den Strom der Generationen und deren Gotteserfahrung. Es hilft mir, auf Gott zu vertrauen; weil andere vor mir schon mit Gott gelebt haben.

Jesaja habe ich beim Blättern durch seine 66 Kapitel neu kennengelernt. Neben all seiner harten Worte und seiner Kritik an den Zuständen hat er gehofft und geahnt, dass es nicht so bleiben wird. Der Prophet hat rund 800 Jahre vor der Geburt von Jesus gelebt. Aber er hat schon damals von ihm erzählt: „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf. Denn uns ist ein Kind geboren …“. Ich bin beeindruckt. Wie sich alles immer wieder fügt. Und mit welcher Klarheit Jesaja schon damals die Geschichte menschlicher Hoffnung geschrieben hat. 

https://www.kathsg.ch/DE/183/Coronabibel.htm

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31156
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