SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

24JUN2020
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Durch Corona ist auch für mich so manche Tür in diesem Jahr zugefallen – aber gleichzeitig haben sich andere geöffnet. Eine davon ist die Tür zum Kellerraum einer Schule. Dahinter hat unsere Kirchengemeinde vor zwei Jahren einen Verkaufsraum eingerichtet. Einmal in der Woche werden hier Lebensmittel in einem improvisierten Tafelladen angeboten. Und weil ich während Corona auf einmal Zeit hatte, habe ich dort einige Wochen ausgeholfen. Ich habe Gemüse sortiert, Kunden bedient, kassiert – und bin mit Menschen zusammengekommen, denen ich normalerweise nicht begegne. Einer von ihnen ist Batu*. Er hilft regelmäßig im Laden; lädt Kisten ein und aus und sortiert Lebensmittel. Er ist mir gleich aufgefallen. Weil er aufmerksam war, flink und immer den richtigen Handgriff gemacht hat. Gut Deutsch spricht er noch nicht, aber wir haben uns verständigen können. Weder sein Akzent noch sein Äußeres haben mich erkennen lassen, aus welchem Land er kommt. Also habe ich ihn gefragt. Als er mir gesagt hat „aus der Türkei“ bin ich hellhörig geworden. Wer in dieser Zeit aus der Türkei flieht, der tut dies sehr oft aus politischen Gründen. Und genau so ist es. Er ist wegen Erdogan hier, hat er mir erzählt. Batu hat seinen Job als Laborant verloren – und seine Frau ist seit drei Jahren in der Türkei im Gefängnis. Jetzt will er besser Deutsch lernen und dann eine Ausbildung machen zum Altenpfleger. Zu seiner Frau hat Batu nur indirekt Kontakt. Direkt mit ihr zu telefonieren, ist zu gefährlich. Die Verbindung zwischen den Beiden läuft über mehrere Verwandte und verschiedene Handys. Ich habe ihn auf die Corona-Situation im Gefängnis angesprochen. Er hat nur die Augenbrauen hochgezogen: Ja, dort gibt es etliche Corona-Fälle; aber Erdogan dementiert das.

Ich habe durch einen Türspalt Einblick nehmen können in das Leben von Batu. Ich bin jetzt zurück in meinem so freien und geradezu sorglosen Leben. Trotzdem denke ich: Es macht einen Unterschied, ob ich in der Zeitung von Flucht, Unterdrückung oder Armut lese – oder ob ich diesen Menschen zumindest schon einmal ins Gesicht gesehen habe. Ich wünsche mir, jeder von uns hätte immer mal wieder die Zeit und die Möglichkeit, sich sozial zu engagieren. Und Mitbürger kennenzulernen, denen man normalerweise nicht begegnet. Diese Begegnungen öffnen.
Ich kann Batus Leben nicht weiter begleiten oder gar teilen, aber etwas habe ich ihm zugesagt: Am Ende meines Einsatzes im Tafelladen wollte ich wissen, wie er es schafft durchzuhalten. Er hat gesagt, er hat immer Hoffnung. Hoffnung, dass alles gut wird. „Fünf Jahre muss meine Frau im Gefängnis bleiben, dann kommt sie frei!“ Dann hat er mich angesehen und gesagt: „Bitte, bete für mich und vor allem, bete für meine Frau“. Das werde ich. Das habe ich ihm versprochen.

*Name geändert

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31155
weiterlesen...