SWR2 Wort zum Tag

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08JUN2020
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In letzter Zeit habe ich viel mehr mit meinen Kindern gemacht, weil an Schule und Kindergarten noch nicht zu denken war: Wir haben in der Wildnis hinterm Haus einen Kletter-Parcours gebaut. Meine alten Brettspiele haben wir rausgeholt und ausprobiert, oder wir sind zum Picknicken in den Wald geradelt. Dabei ist mir mal wieder aufgefallen, wie spontan Kinder sind. Während ich noch darüber nachdenke, ob ich zum Klettern die richtige Hose anhabe, sind sie schon losgekraxelt. Wenn ich noch überlege, ob das Brettspiel nicht zu komplex ist, bewundern sie schon den bunten Spielplan und erfinden eigene Regeln. Während ich mir beim Picknick noch Gedanken darüber mache, ob ich nicht die Gemüsesticks vor den Salzbrezeln hätte bringen sollen, haben sie schon beides im Mund und erfinden neue Kombinationen: Karotte in Apfelsaft zum Beispiel. 

Ich habe meine Kinder beneidet, wie arglos sie in den Tag reinleben. Sie planen wenig voraus und wägen nicht ab. Sie sind nicht besonders misstrauisch und reagieren meistens direkt und unverstellt. Kinder sind einfach super echt. Das ist einerseits schön, es hat aber auch eine andere Seite. Denn Kinder können nicht nur echt begeistert oder echt erfinderisch sein, sondern auch echt traurig, echt sauer, oder echt ehrlich. Und das kann echt peinlich werden: Onkel Walter redet immer so viel, dem streck ich jetzt die Zunge raus. Omas Suppe schmeckt nicht, die wird jetzt ausgespuckt. Aber auch das gehört dazu - zum Echtsein. 

Ich habe das Echtsein ein bisschen verlernt. Und ich glaube, ich weiß auch, warum. Ab einem bestimmten Alter habe ich schlechte Erfahrungen damit gemacht. Da wurde ich komisch angeguckt, zurückgepfiffen oder ausgelacht. Und irgendwann bin ich dann „vernünftig“ geworden und auch ein bisschen angepasst. Das hatte seine guten Gründe, denn wer echt ist, wird durchschaubar, der riskiert Konflikte oder wird als seltsamer Vogel abgestempelt. Echt sein heißt meistens auch ein Risiko einzugehen. 

Es gibt aber Momente, da kann ich ziemlich risikolos ich selbst sein. Und die kann ich dann so richtig genießen: Durch Pfützen latschen zum Beispiel, aus vollem Leib ein Lied mitsingen, in einer Diskussion mutig meine Meinung vertreten, mir fette Kotletten stehen lassen, weinen, wenn mir danach zumute ist, mich im Wald ins Moos legen. Echt sein kann echt gut tun.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=31053
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