SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

27MAI2020
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Verweile doch, du bist so schön. Das sagt Faust zu Margarete, als er dabei ist, sich in sie zu verlieben. Wenn zwei Menschen sich gern haben, lassen sie sich nur ungern los. Sie wollen möglichst viel Zeit miteinander verbringen, eine Trennung so lange es geht hinauszögern. Sie sagen zueinander: „Bleib da, bitte. Noch eine Weile. Geh‘ noch nicht.“

Für mich steckt im Wort „Bleiben“ eine große Sehnsucht. Abends spüre ich sie besonders stark. Weil es tagsüber oft hektisch zugeht, weil ein Gedanke unmittelbar auf den nächsten folgt, weil ich vielen Veränderungen ausgesetzt bin. Eine einzige Nachricht per Telefon oder als E-Mail kann eine völlig neue Welt eröffnen. Jemand bittet um ein Gespräch, schüttet mir sein Herz aus und erzählt mir dabei seine halbe Lebensgeschichte. Mit allen Höhen und Tiefen, die eben dazu gehören. Manchmal ist das viel für mich, und ich muss es erst „verdauen“. Oder es kündigt sich eine neue Aufgabe an, von der ich weiß, dass das eine große Herausforderung wird und ich von mir selbst erwarte, dass ich sie gut bewältige. Das kann viel Unruhe bringen, neben dem laufenden Geschäft her. Ich stelle mich dem gern. Ich habe auch keine grundsätzliche Angst vor dem, was kommt. Aber ich weiß auch, dass es diese andere Sehnsucht in mir gibt: Nach dem, was bleibt. Am Abend rufe ich mir das oft ins Gedächtnis. Besonders wenn der Tag unruhig war: „Thomas, was bleibt?“

Hinter meinem Haus im Garten steht ein mächtiger Kirschbaum. Er ist bestimmt sechzig Jahre alt, vielleicht älter. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich ihn. Gerade ist er prächtig grün und die Fruchtansätze der Kirschen sind schon gut zu sehen. Im Laufe des Jahres verändert er immer wieder sein Aussehen. Im Winter ist er kahl, hat aber ein dichtes Geflecht von Ästen. Da kann ich durch ihn hindurch aufs Feld dahinter schauen. Im April umgibt ihn ein Meer von Blüten und ich kann die Bienen hören, die in ihm summen. Er trägt im Sommer so viele Früchte, dass die ganze Nachbarschaft es nicht schafft sie zu ernten. Und im Herbst bin ich gut beschäftigt die Haufen an Laub wegzuschaffen, die er abwirft. Aber eines ist immer gleich: Er steht da, rückt keinen Millimeter zur Seite. Mag es um ihn herum noch so viel Hektik geben. Er bleibt. Und es tut mir gut, das zu sehen. Egal, was passiert, egal, wie unruhig es um mich herum oder in mir. Wann immer ich aus dem Fenster schaue, ist dort der Kirschbaum. Und dann weiß ich: Auch Du, Thomas, hast so einen festen Stamm in dir. Gott hat ihn in dich gepflanzt. Deinen Charakter, deine Persönlichkeit, dein Wesen. Das bleibt. Komme, was da wolle.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30967
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