SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

26MAI2020
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Wer in Tübingen lebt wie ich, stößt immer wieder auf den Namen Hölderlin. In diesem Jahr besonders. Weil Friedrich Hölderlin vor 250 Jahren geboren wurde. Und die Hälfte seines Lebens, zumal seine letzten Jahre, in Tübingen verbracht hat.

Hölderlin war ein hochbegabter junger Mann. Feinsinnig, an Kunst und Literatur interessiert. Ein Denker, aufgeschlossen für die neuen Ideen der Französischen Revolution, die auch nach Deutschland kamen, gerade in der Zeit, wo er dran ging zu studieren. In Tübingen, im Evangelischen Stift. Seine Mutter wollte, dass er Pfarrer wird. Einen anständigen Beruf ergreift, in dem man angesehen ist und Geld verdient. Da war Theologie die richtige Wahl. Aber eben nur für die Mutter. Friedrich hat das zunehmend anders gesehen und immer wieder Versuche unternommen, aus der Enge der strengen Bildungsanstalt auszubrechen. Manchmal ist er dazu tatsächlich abgehauen. Oder er hat sich mit Freunden in eine geistige Welt verkrochen, wo sie frei über alles nachdenken und sprechen konnten. Nicht zu übersehen ist diese Suche auch in dem, was er schreibt. Seine Gedichte sprechen von einer Welt, nach der der begabte junge Mann sich sehnt. Hölderlins letzte Flucht ist der Wahnsinn, die geistige Verwirrung. Bis heute ist nicht geklärt, ob er sie selbst gewählt hat, um von der realen Welt um ihn herum in Ruhe gelassen zu werden.

Die zwei Seiten einer besonderen Begabung. Sie sind mir schon oft begegnet. Bei Schülern, die mit vierzehn an der Uni Mathematik studiert haben, aber kaum den Weg in die Vorlesung finden konnten. Bei Menschen mit einer starken Empfindsamkeit für religiöse Vorgänge. Nicht nur einen habe ich irgendwann in der Psychiatrie besucht. Bei brillanten Musikern, denen es so gut wie unmöglich war, normale Beziehungen zu anderen aufzubauen. Auch deshalb, weil die anderen sie nicht verstanden und am Ende belächelt haben. So eine außergewöhnliche Begabung ist Lust und Last. Alle, die mit solchen Menschen zu tun haben, müssen das wissen und darauf achtgeben. Wer Begabte fördert, hat auch eine Verantwortung für die Schattenseiten ihrer Begabung.

Ich lerne daraus etwas sehr Grundsätzliches. Jeder Mensch ist ein kostbares, aber auch kompliziertes Wesen. Der erste Eindruck täuscht oft. Es braucht Zeit, um zu verstehen, wie ein anderer ist - und vor allem, was er braucht. Zu einem guten Leben, zum Glücklichsein. Jeder Mensch verdient es, dass das respektiert und beachtet wird. Weil er sonst zerbricht unter der Last, die die Welt oder er selbst sein kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30966
weiterlesen...