SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

28MAI2020
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Wir sitzen beim Mittagessen. Ich weiß genau, dass der kleine Tom schon alleine essen kann. Und trotzdem fragt er mich: „Papa, kannst du mich füttern?“. Ein bisschen brummig willige ich ein und beginne, ihm den Löffel vollzuladen und in den Mund zu schieben. 

Beim Füttern muss ich immer dran denken, wie wir unsere Oma gefüttert haben. Und dass ich selbst vielleicht auch mal in die Situation kommen kann. Und ohne groß nachzudenken frage ich Tom: „Fütterst du mich später auch mal, wenn ich alt bin und nicht mehr alleine essen kann?“ 

Während Tom das Essen kaut, rattert´s in dem kleinen Kopf. Und fast im selben Moment rattert´s auch bei mir. Mir fällt nämlich  ein Spruch von Kahlil Gibran ein. Der war ein arabisch-amerikanischer Künstler und Dichter. In einem berühmten Text von ihm heißt es: „Eure Kinder sind nicht eure Kinder. (…) Sie kommen durch euch, (…) und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch nicht. (…) Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken.“ 

Dieser Text ist schon 100 Jahre alt und erregt immer wieder die Gemüter. Viele Eltern können nicht verstehen, dass sie ihren Kindern Freiheit lassen müssen. Zur Not bis dahin, dass sich die Kinder einmal von ihnen abwenden. Das vierte Gebot heißt zwar „Du sollst deine Eltern ehren.“ Aber „ehren“ beinhaltet eben nicht, sich als Kind vereinnahmen lassen oder alles hinnehmen zu müssen bis hin zur Entscheidung, wie ich später mal mein Leben führen möchte. 

Fast wünsche ich mir, dass ich Tom gar nicht gefragt hätte, ob er mich später mal füttern wird. Und deshalb warte ich leicht nervös auf seine Antwort. Als Tom fertig gekaut hat, sagt er ganz ruhig: „Vielleicht Papa, weiß ich noch nicht.“ Puh, wie schlau von ihm. Und den nächsten Löffel lade ich mit ganz viel Liebe auf.

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