Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Beim Ansturm auf den Gipfel des Mount Everest überholt eine Bergsteigergruppe ein an-deres Team, das offenbar erschöpft ist und Hilfe braucht. Aber die Gruppe geht unge-rührt vorbei, den Gipfel vor Augen. Noch weiter oben stoßen sie auf weitere Bergsteiger, deren Erschöpfung ist schon lebensgefährlich. Aber die Gipfelstürmer kennen auch hier kein Halten, sie steigen weiter auf und erklimmen den Gipfel. Wenig später wird das Ver-halten der erfolgreichen Bergsteiger durch die Berichte entsetzter Träger bekannt. Es kommt zu einer Gerichtsverhandlung, und einer der erfolgreichen Bergsteiger gibt zu Protokoll: `Wir haben alle Kräfte und langwierige Vorbereitungen auf dieses Unterneh-men konzentriert. Das konnten und wollten wir nicht aufs Spiel setzen, indem wir bei den anderen anhielten - schon gar nicht, nachdem wir so weit gekommen waren. Oberhalb von 8000 Metern gibt es keine Moral mehr. ´
„Oberhalb von 8000 Metern“ wird anscheinend nicht nur die Luft zu dünn zum Atmen, auch die Moral verflüchtigt sich. Diese Erfahrung gilt offenbar nicht nur am Mount Eve-rest, sie findet sich auch in anderen Höhenlagen des Lebens: Verliert man ab ein paar hunderttausend Euro Jahreseinkommen den Blick für die Lebenslage von Geringverdie-nern? Gibt es jenseits von Tempo 180 auf der Autobahn kein Bewusstsein mehr für die Gefährdung eigenen und fremden Lebens? Hat man nach langer extremer beruflicher Anstrengung allen Sinn für Familie und Freundschaft aufgegeben?
Die Frage drängt sich auf: Geht die Moral in der Höhe zwangsläufig verloren? Soll man deshalb immer hübsch unter 8000 Metern bleiben, nie eine Grenze überschreiten? Auf keinen Fall, Grenzen muß man überschreiten. Kommt nur drauf an, was man über die Grenze mitnimmt. Denn auch die Bergsteiger haben ihre Verantwortung nicht erst in der Höhe aufgegeben, sie haben die anderen viel früher aus dem Blick verloren. Sie haben ihre Moral schon am Fuß des Berges abgegeben, als sie alle Kraft und Mittel daransetz-ten und nichts anderes mehr wollten, als den Gipfel zu bezwingen.
Wer Moral als Ballast beim Aufstieg empfindet, wird sie schon nach wenigen Metern ab-werfen, nicht erst in schwindelnder Höhe. Wer aber Moral als eiserne Ration betrachtet, ohne die es keinen Aufstieg und vor allem keinen ehrenvollen Abstieg gibt, der wird sie über jede Grenze mitnehmen. Denn das war die Erfahrung der erfolgreichen Bergsteiger: Als sie wieder am Fuß des Berges ankamen, holte die Moral sie wieder ein. Die Träger, die von dem verantwortungslosen Handeln berichteten, die hatten nämlich ihre Moral immer noch dabei.


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