SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

15MAI2020
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Wenn mich jemand fragt, wann und wo ich am besten abschalten kann, wo ich so richtig Kraft tanke, dann ist meine Antwort schon immer: Mittendrin, zwischen ganz vielen lieben Menschen. Ob auf einem Konzert, einer Feier im Freundeskreis, in der Innenstadt von Stuttgart oder vor meiner Schulklasse. Das alles sind Orte, an denen ich mich wohl fühle, an denen ich auftanke. Orte, die mir heilig sind. Seit Corona ist das alles nicht mehr möglich. Meine heiligen Orte sind verboten. Die Straßen in der Stadt sind leer und Konzerte, Feste oder Schulunterricht sind so nicht mehr möglich. Und wenn ich dann doch mal eine Ansammlung von Menschen in meiner Stadt sehe, dann bereitet mir das viel mehr Sorgen, als dass es sich irgendwie heilig anfühlen könnte. Denn Abstand ist angesagt. Und das ist auch wichtig und richtig so!

Trotzdem: Seit der ersten verordneten Kontaktsperre im März fühle ich mich irgendwie leer und einsam. Auch wenn ich meine Familie um mich herum habe, fehlen mir meine Freund*innen, meine anderen Familienmitglieder und meine Schüler*innen. Und so geht’s auch vielen um mich herum: Wir vermissen Menschen, Umarmungen, die Lieblingsbar oder den Freundeskreis.

Anfangs habe ich versucht, das Ganze mit Videotelefonaten oder Whatsapp Nachrichten auszugleichen. Aber ganz ehrlich: Das ist nicht dasselbe. Ich bin froh, dass wir so viele Möglichkeiten haben, um vernetzt zu bleiben, aber diese persönliche Begegnung, die vielen Menschen, die mich auftanken, die fehlen mir trotzdem.

Da ich weiß, dass diese Krise noch andauern wird, möchte ich das alles nicht als Durststrecke sehen. Denn ich merke: Wenn es so weiter geht, dann verdurste ich irgendwann. Deshalb habe ich mir vorgenommen, meine Beziehungen zu diesen Menschen gezielt auch außerhalb der Medien zu führen. Eine Freundin hatte Liebeskummer. Ich hätte sie so gerne in den Arm genommen. Stattdessen habe ich ihr eine Karte geschrieben. Sie hatte beim Videotelefonieren dann endlich mal wieder ein Lächeln im Gesicht. Dieses Lächeln: heilig. Die Tochter einer Freundin hatte Geburtstag. Wir haben uns als Familie vors Fenster gestellt und ein Geburtstagsständchen gesungen. Dieses Grinsen der Kleinen: heilig! Und letztens haben uns Freund*innen einen Kuchen vor die Tür gestellt und uns aufgeregt durchs Fenster gewunken. Dieses euphorische Gewinke: heilig!

Das alles sind Orte, an denen ich spüre, dass unsere Beziehungen weiter gehen und wir – trotz körperlicher Distanz – ganz nah beieinander sind. Heilige Orte in der Coronazeit.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30900
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