SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

12MAI2020
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Meine Großmutter ist gestresst. Das höre und spüre ich, als ich sie anrufe. Sie atmet aufgeregt, redet ganz schnell und findet kaum Pausen zwischen ihren Worten. Ich frage sie, warum sie denn so aufgeregt klingt. Erst schiebt sie alles auf ihren Blutdruck. Aber dahinter steckt noch etwas anderes. Sie sagt, sie nimmt sich ständig zu viel vor und schafft das alles nicht. Das stresst sie.

Meine Großmutter ist über 90 Jahre alt. Sie hat doch eigentlich gar keinen Termin- oder Arbeitsstress. Sie sagt mir: „Du hast vollkommen Recht. Niemand erwartet von mir etwas. Aber da bin doch auch noch ich.“ Sie erklärt mir, dass sie sich selbst Ziele setzt. Zum Beispiel ihr Hochbeet in Ordnung zu bringen oder der Freundin einen Geburtstagsgruß zu schicken. Vielleicht mag das alles für Andere nicht so wichtig klingen. Aber IHR ist es wichtig. Und bei all ihren Bemühungen schafft sie es dann oft doch nicht, ihre Ziele zu erreichen. Das stresst meine Großmutter.

Auch wenn ich es anfangs belächelt habe, merke ich, wie ähnlich wir uns darin doch sind. Auch ich nehme mir Dinge vor, die für Andere nicht so wichtig klingen, aber mich stressen. Und leider scheitere auch ich dabei oft und fühle mich einfach nur gestresst.

Wenn ich an das Telefonat mit meiner Großmutter denke, dann bin ich noch ganz gerührt. Denn ich habe mich ihr schon lange nicht mehr so nah gefühlt. Das liegt bestimmt daran, dass wir uns beide ganz offen von unseren Sorgen erzählt haben UND Verständnis füreinander hatten. Unsere Sorgen sind vollkommen unterschiedlich und unsere Welten könnten manchmal nicht weiter voneinander entfernt liegen. Aber wir können uns trotzdem zuhören und uns gegenseitig Mut zusprechen. Mir ist es immer wichtig, dass mich mein Gegenüber Ernst nimmt in dem, was mich bewegt. Und genau das hat meine Großmutter in unserem Gespräch gemacht – und das, obwohl ich sie anfangs noch für ihre Sorgen belächelt habe. Das finde ich ziemlich stark.

Und so haben wir gemeinsam nach Lösungen gesucht: Wir haben uns vorgenommen, uns weniger unter Druck zu setzen. Natürlich wollen wir beide unsere Aufgaben gut erledigen; aber am Ende des Tages fragen wir uns doch nicht wirklich, ob der Vorgarten ordentlich genug aussieht oder wir hart genug gearbeitet haben. Sondern ob wir glücklich sind. Und das sind meine Großmutter und ich. Denn am Ende des Tages dürfen wir uns ganz sicher sein, dass wir unter dem Segen Gottes stehen – völlig unabhängig davon, wie viel wir über den Tag erreicht haben. Wir sind von Gott gesegnet. Und diesen Segen spüren wir, wenn wir uns gegenseitig zuhören, uns ernst nehmen und so gemeinsam den Stress hinter uns lassen können.

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