SWR3 Worte

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14MAI2020
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Die jüdische Ärztin und Autorin Rachel Naomi Remen erzählt Geschichten über ihren geliebten Großvater. Er war Rabbi und hat ihr viel über das Leben beigebracht. Auch das hier: 

„Einmal hat mir mein Großvater einen kleinen Pappbecher mitgebracht. Ich schaute hinein, erwartete irgendeine Überraschung. Er war voller Erde. […]

Er sagte zu mir: „Wenn Du versprichst, jeden Tag etwas Wasser in den Becher zu gießen, dann wird vielleicht etwas geschehen.“

Als Tage vergingen, ohne dass sich irgendetwas tat, fiel es mir immer schwerer, daran zu denken, Wasser in den Becher zu gießen.

Ich ließ aber keinen Tag aus. Und eines Morgens waren da zwei kleine grüne Blätter […].

Ich staunte nicht schlecht. Ich konnte es kaum erwarten, meinem Großvater davon zu berichten. Er erklärte mir, dass das Leben überall sei, versteckt an den unwahrscheinlichsten Orten. Ich strahlte. „Und es braucht nur ein bisschen Wasser, Großvater?“ fragte ich ihn. Er legte mir sanft die Hand auf den Kopf. „Nein“, antwortete er. „Alles was es braucht, ist deine Zuverlässigkeit.“

 

Aus: Rachel Naomi Remen, Aus Liebe zum Leben, arbor Verlag, Freiamt 2015, S. 9-10.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30863
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