Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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07MAI2020
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Wird schweres Leid vielleicht leichter, wenn wir ihm einen Sinn, einen Zweck unterstellen können? Eine Theologin schreibt dazu:

„Es kommt nicht darauf an, dass wir dem Leiden entgehen, sondern dass das Leiden seinen Zweck erfüllt.“

Ich halte das für falsch. Ich kann in wirklichem Leid keinen Zweck erkennen. Schmerzen, ja, die mögen einen Sinn haben, zum Beispiel als Warnung, als Hinweis auf körperliche Schäden. Aber ich kann keinen guten oder gar höheren Zweck darin erkennen, wenn Menschen leiden, wenn sie in Krankheit dahinsiechen, wenn Kinder verhungern, wenn Menschen an Einsamkeit zugrunde gehen oder ausgebeutet werden. Hierin einen Zweck zu sehen oder menschliches Leid zu rechtfertigen, das heißt aus meiner Sicht: Die Leidenden verhöhnen.

Kein noch so guter Zweck rechtfertigt menschliches Leid.
Deshalb verherrlicht christlicher Glaube auch nicht das Leid. Er weicht dem Leid nicht aus, redet es auch nicht schön und unterstellt ihm keinen Zweck. Im Leid verweist der Glaube vielmehr auf Gott. Das Besondere an diesem Gott ist: Er kennt dieses Leid. An Jesus Christus hat Gott das Leid buchstäblich am eigenen Leib erfahren. Auch das Leiden Jesu diente keinem guten Zweck. Dass Jesus leiden musste, war das Verbrechen an einem Unschuldigen, nichts anderes. Dass Jesus dieses Leiden durchstand und weiter fest auf seinen göttlichen Vater vertraute – das freilich hat einen Sinn. Es zeigt mir: Jesus hielt an Gott fest, und Gott hielt an Jesus fest, auch im Leid. Es zeigt mir Gott als den, der auch im Leid bei mir ist.

Ich muss nicht nach einem verborgenen Sinn suchen. Ich muss mich auch nicht klaglos in das Leid schicken. Ich kann vielmehr nach meinem nahen Gott rufen, ja schreien. Ich kann ihn bitten, ihn fordern: Dass er das Leid wendet. Dass er mir Menschen an die Seite stellt. Dass er mir Kraft gibt. Dass ich Auswege erkenne. Dass ich den Kampf aufnehme. Und dass mich das eigene Leid sensibler macht für das Leid anderer.

Selbst im Leid ist mir Gott nahe. Das macht Leiden nicht sinnvoll, aber es gibt meinem Leben Halt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30832
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