SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

04MAI2020
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Wenn ich langsamer unterwegs bin, dann sehe ich mehr. Das merke ich jedes Mal, wenn ich mit dem Fahrrad nach Karlsruhe fahre, statt mit der Bahn. Das Fahrrad fährt einfach nicht so schnell. Und so habe ich Zeit, mir die Landschaft um mich herum anzuschauen. Ich freu mich an blühenden Rapsfeldern, ich fahre an einer Pferdekoppel vorbei, ich grüße die ältere Frau, die mit ihrem Hund unterwegs ist und genieße die Aussicht von den Höhendörfern hinunter auf Karlsruhe. Das ist einfach etwas ganz anderes, als schnell mit der Bahn zu fahren. Klar, ich brauche mehr Zeit. Aber ich werde dafür mit vielen schönen Eindrücken belohnt.

Nicht nur auf der Fahrt zu meiner Arbeit bin ich jetzt ab und zu langsamer unterwegs. Mein ganzes Leben verlief in den letzten Wochen etwas langsamer. Ein kleines Virus hat unser ganzes Land und auch mich ausgebremst. Das hat bei mir schon damit angefangen, dass ich jetzt oft von Zuhause aus arbeite. Und weil ich morgens nicht über eine Stunde ins Büro fahren muss, kann ich etwas länger schlafen. Beim Gassigehen mit unserem Hund habe ich auch etwas mehr Zeit und komme hier und da mal mit anderen Hundebesitzern ins Gespräch. Viele Termine sind weggefallen oder verschoben worden. Mit meinen Kindern rede ich auch öfter und erfahre mehr von dem, was sie umtreibt. Und letztens habe ich mich doch tatsächlich dabei ertappt, dass ich vor unserem Haus in der Sonne saß, die Blumen anschaute und … nichts tat! Einfach gar nichts! Ich weiß: Nicht jeder kann diese Zeit genießen. Wer Homeoffice hat und zugleich kleine Kinder betreuen muss, für den ist diese Zeit extrem anstrengend. Auch für andere, die sehr viel mehr Arbeit haben als sonst. Gut, wenn das nicht immer so weitergeht. Aber mir hat die Langsamkeit gut getan.

Der schwedische Dichter Sjödin hat einmal gesagt: „Das schönste Geschenk, dass ich denen machen kann, die ich liebe, ist, nicht ständig in Eile und gestresst zu sein“. Ich merke, wie das stimmt. Wenn ich in Eile bin, nehme ich weniger wahr. Ich merke nicht, wie es anderen geht. Ich sehe nicht, was sie umtreibt. Ich habe keine Zeit, um ihnen wirklich zuzuhören. Langsamer unterwegs sein, das ist ein schönes Geschenk an andere – und an mich selbst.

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