SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

02MAI2020
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Zugegeben: ein chinesisches Schriftzeichen im Radio zu beschreiben ist gar nicht so einfach. Ich probier´s trotzdem, weil mir bei der Sache ein Licht aufgegangen ist. Das chinesische Wort „Krise“ besteht aus zwei Schriftzeichen. Das erste gleicht einem schnell gezeichneten Blitz und heißt „Gefahr“. Das zweite sieht mit viel Fantasie aus wie ein Brautpaar und bedeutet „Chance“. 

Die alten Chinesen müssen irgendwie geahnt oder gewusst haben, dass eine Krise aus zwei Komponenten besteht: aus Gefahr und aus Chance. Dass eine Krise gefährlich sein kann - das ist nicht neu für mich, das erlebe ich in diesen Zeiten ja an jeder Ecke. Aber das mit der Chance finde ich besonders interessant. 

Dazu gibt es eine schöne Geschichte von einem Schiffbrüchigen. Der strandet auf einer einsamen Insel. Mit letzter Kraft baut er eine Hütte aus Treibholz, um darin seine geretteten Vorräte trocken zu halten. Als er am nächsten Tag von einer Erkundungstour zurückkommt, sieht er schon von Weitem dicken Rauch aufsteigen. Seine Hütte brennt lichterloh. Alle Arbeit umsonst, denkt er, und jetzt verbrennen meine Vorräte. Aber Stunden später hält eine Yacht Kurs auf die Insel und legt an. Verwundert fragt der Schiffbrüchige: „Woher wusstet ihr, dass ich hier bin?“ Der Kapitän antwortet: „Wir haben ihre Rauchzeichen gesehen.“ 

Das was zunächst ausgesehen hat wie eine volle Katastrophe hatte einen positiven Effekt. Und das erlebe ich auch zurzeit. Die Krise bringt sicher Leid hervor. Leute werden krank, sterben, sind einsam, überarbeitet oder zerstreiten sich, weil sie zu eng aufeinander leben müssen. Aber mitten in der Krise gibt es auch Aufbrüche: Menschen, die für andere Musik machen, einkaufen, Geschenke vor die Tür stellen. Eltern, die viel Zeit mit ihren Kindern verbringen. Familien und Nachbarn, die im übertragenen Sinne zusammenrücken. Der Verkehr nimmt ab, der Himmel wirkt klarer, und ich meine jetzt auch mehr Vögel zwitschern zu hören. 

Es gibt auch Krisen und Schicksalsschläge, da ist an Aufbrüche gar nicht zu denken ist. Da kann man vielleicht nur noch aushalten. Und trotzdem, wenn ich auf meinen eigenen Lebensweg schaue, da wird mir klar, dass es die Krisen waren, die mich voran gebracht haben. Nur weil es in meinem vorigen Beruf nicht so richtig weitergegangen ist, bin ich an der Stelle gelandet, wo es sich jetzt richtig anfühlt. Nur weil eine Beziehung zerbrochen ist, habe ich meine wunderbare Frau kennen gelernt. Meistens waren Krisen mit einem neuen Aufbruch verbunden. Und das haben die alten Chinesen offenbar schon lange gewusst: Krise gleich Gefahr plus Chance.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30809
weiterlesen...