SWR2 Wort zum Tag

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25APR2020
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Einmal im Jahr absolviere ich Schweigeexerzitien. Zehn Tage lang. Bücher sind auch nicht erlaubt, es gilt, jeden Tag nur einen Satz aus der Bibel zu bedenken. Ich schätze es, dass ich in diesen Tagen zu innerer Klarheit finde. Allerdings ist es mir während der Exerzitien, offen gestanden, manchmal auch furchtbar langweilig. Wahrscheinlich bin ich nicht erlöst genug, aber wenn ich es schon riesig spannend finde, dass ein Eichhörnchen im Garten des Klosters von rechts nach links rennt, dann sehne ich mich tatsächlich nach dem Ende dieser spirituellen Zeit und darauf, dass ich meine Familie wiedersehen kann.

In den letzten Wochen der Corona-Pandemie habe ich aber erfreut festgestellt, dass mir die Erfahrungen aus den Exerzitien sehr geholfen haben. Meine Exerzitien waren ein gutes Training für eine Zeit, in der mir nicht die üblichen Ablenkungen und Vergnügungen des Alltags zur Verfügung standen und ich ohne die interessanten Begegnungen im Beruf, ohne Theater, Konzerte und abendliche Restaurantbesuche auskommen und sogar ohne meinen Sohn Ostern feiern musste. Ich habe über die spirituelle Übung in all den Jahren gelernt, dass es eine Zeitlang auch ohne geht und das hat mir geholfen. Ich war sogar dankbar, dass ich ja immerhin sprechen durfte, mit meinen Freunden telefonieren oder whats-appen konnte und meine Bücher zur Verfügung hatte. Ich habe nur viel weniger gelesen als gedacht, weil ich jede Chance zum Spazierengehen genutzt habe. Ich wusste ja nicht, ob es noch eine Ausgangssperre wie in Frankreich geben würde. Da galt es, auf Vorrat Natur zu tanken. Jeder Sonnentag und die bunten Blumen im Garten waren keine Selbstverständlichkeiten, sondern Zeichen der Hoffnung, und ich habe mich ganz neu über sie gefreut. Sogar ein Eichhörnchen kam vorbei und war willkommen.

Natürlich freue ich mich darüber, wenn ich wieder so leben kann wie vor den Corona-Zeiten. Aber ich möchte mir den Lernerfolg aus dieser Zeit auch bewahren. Nicht nur für mich könnte das wichtig sein. Nicht nur den Körper fit halten, sondern auch die Fähigkeit, eine Zeitlang zu verzichten. Das schärft den Sinn für das, was im Leben wirklich wichtig ist. Nicht zuletzt ist mir auch wieder deutlich geworden, wie grundlegend unsere persönliche Freiheit und unsere Demokratie sind. Sie für eine Zeitlang einzuschränken, um einer Pandemie die Stirn zu bieten, kann ich gut einsehen und ertragen. So leben wie in Ungarn möchte ich nicht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30771
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